Es war ein nassgrauer, regnerischer Morgen, als zwei Dutzend Leute der Gruppe Letzte Generation am 24. Januar 2022 erstmals in Berlin Autobahnzufahrten blockierten. Damals hatte wohl kaum jemand eine Vorstellung, was aus dem Protest für mehr Klimaschutz noch werden sollte. Seither haben die sogenannten Klimakleber die halbe Republik gegen sich aufgebracht. Autofahrer schimpfen, Staatsanwälte ermitteln, Politiker empören sich, vermuten gar Terrorgefahr.
Die Gruppe selbst zieht diese Bilanz: "Innerhalb eines Jahres ist die Letzte Generation unignorierbar geworden." Nun sollen die Aktionen noch deutlich ausgeweitet werden, wie Sprecherin Aimée van Baalen am Montag sagte. "Der Widerstand wird größer als je zuvor." Was genau geplant ist, sagte sie nicht.
Hungerstreik für radikale Klimawende
Angefangen hatte alles schon 2021, kurz vor der Bundestagswahl, mit einem Hungerstreik in Berlin für eine radikale Klimawende. Die Aktivisten warnten damals wie heute, dass kaum noch Zeit bleibe, eine Vollbremsung bei den schädlichen Klimagasen einzuleiten und tödliche Überhitzung der Erde zu vermeiden. Die Hungerstreikenden erstritten ein Gespräch mit Wahlgewinner Olaf Scholz. Als Scholz auf ihre Forderungen nicht einging, begannen die Straßenblockaden. Dazu kamen Proteste in Museen, Stadien, an Erdölpipelines oder Flughäfen. In der Regel kleben sich die Teilnehmer an Oberflächen fest, damit die Räumung lange dauert.
Die Gruppe selbst hat 1250 Straßenblockaden in ganz Deutschland gezählt, rund 800 Menschen hätten sich bei Blockaden festgeklebt. Mehr als 1200 Mal kamen Protestierende in Polizeigewahrsam. In vielen Großstädten legten sie nicht nur den Verkehr lahm, sondern machten Polizei und Politik schwer zu schaffen. Allein in Berlin meldete die Polizei bis Mitte Januar rund 262.700 Einsatzstunden für die Proteste der Letzten Generation. 770 Tatverdächtige sind in der Hauptstadt aktenkundig, 2700 Strafanzeigen gestellt. Inzwischen rollt eine Prozesswelle.
"Wir wissen ja, dass es nervt, dass Leute wegen uns im Stau stehen müssen", sagt die 20-jährige Lina Eichler. Gemeinsam mit dem ehemaligen Politikstudenten Henning Jeschke gehört sie zu den Gründungsmitgliedern. Beide waren schon beim Hungerstreik dabei und widmen sich Vollzeit dem Protest - mit allen Konsequenzen. "Ich wurde auch schon einmal auf der Straße ins Gesicht geschlagen", sagt Eichler. Niemand möge die Menschen, die wie sie Alarm schlagen. Doch es gehe nicht anders. "Wir müssen unterbrechen, weil so die Gesellschaft darüber diskutiert", ist Eichler überzeugt.
Ein Akt des zivilen Widerstands
Die Letzte Generation hält den Protest für absolut friedlich und einen Akt des zivilen Widerstands ähnlich der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1960er Jahren. "Gewaltfreie Provokationen im Sinne von Aufregern und Empörung - ja", sagt Jeschke. Menschen dürften aber nicht verletzt werden. "Wenn mich jemand schlägt oder so, dann muss ich auch die Fassung bewahren." Das werde trainiert.
Trotzdem ballte sich die Kritik, als im Herbst nach dem Fahrradunfall einer Berlinerin ein Bergungsfahrzeug minutenlang stecken blieb - wohl auch, weil es kilometerweit entfernt eine Blockade gab. Dass Aktivisten Bilder in Museen, die mit Glas geschützt waren, mit Kartoffelbrei bewarfen, Feueralarme auslösten, Ministerien blockierten und Flughäfen zeitweise lahmlegten, sorgte ebenfalls für heftige Reaktionen. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin startete Ermittlungen wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung, weil Aktivisten Pipelines der brandenburgischen PCK-Raffinerie abdrehten.
"Die Radikalisierung von Teilen der Klimabewegung ist hochgradig besorgniserregend", sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai im November. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt warnte sogar vor der Entstehung einer "Klima-RAF" in Anlehnung an die Terrorgruppe Rote Armee Fraktion, der mehr als 30 Morde zur Last gelegt werden. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang stufte diesen Vergleich aber als "Nonsens" ein.
"Klimaterroristen" als Unwort des Jahres
Dieser Begriff sei "bereits mehrfach als völlig überzogen entblößt" worden, meint Carla Rochel, eine weitere Sprecherin der Letzten Generation. Die Auswahl von "Klimaterroristen" als Unwort des Jahres belege, dass friedliche Proteste kriminalisiert und durch den Schmutz gezogen werden sollten. Der Rechtsbruch liege auf Seiten der Bundesregierung: "Sie bricht Artikel 20a des Grundgesetzes, wie es derzeit mit ihrer Politik zu Lützerath und LNG-Terminals weiter deutlich wird." In dem Artikel wird der Staat verpflichtet, "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere" zu schützen.
Es ist ein Kräftemessen mit hohem Einsatz. Gegen Eichler laufen nach ihren eigenen Angaben mehr als 30 Verfahren. Bei Jeschke seien es etwa zwei Dutzend - einige davon eingestellt. Beide saßen schon häufig in Polizeizellen. Jeschkes elterliche Wohnung in Greifswald, in der Eichler und er gemeldet sind, wurde Ende des Jahres zweimal binnen eines Monats durchsucht. Eichler hat ihr Abi geschmissen, Jeschke sein Studium eingestellt. Für sie zählt jetzt nur Protest.
Einigen Vollzeit-Aktivisten zahlt die Letzte Generation aus Spendengeldern finanzielle Zuwendungen, wie es in einem Transparenzbericht heißt. "Es werden derzeit 41 Menschen für ihre Bildungsarbeit unterstützt", sagte Sprecherin Carla Hinrichs dem Portal t-online. 2022 erhielt die Gruppe gut 900.000 Euro an Spenden und gab etwa 535.000 Euro aus. Die Hälfte floss in Mieten von Veranstaltungsräumen, Wohnungen für Demonstranten und Autos, weitere 100.000 Euro in Material wie Sekundenkleber, Transparente, Warnwesten, Sitzkissen und Handwärmer.
Zwei ultimative Forderungen
Für ein Ende der Blockaden hat die Gruppe zwei ultimative Forderungen: Tempo 100 auf Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket. Klingt banal, ist aber nicht in Sicht. Was also bewirkt die Letzte Generation? Die Gruppe selbst meldet Zulauf weiterer Aktivisten und wachsenden Rückhalt bei Wissenschaftlern, Künstlern, Kirchen. Die Linke signalisierte zuletzt Sympathie. Aber breite Unterstützung fehlt. In einer Civey-Umfrage vom November sagten 86 Prozent der Befragten, die Letzte Generation schade mit ihrem Vorgehen dem Anliegen des Klimaschutzes.
Der Protestforscher Jannis Grimm von der Freien Universität Berlin plädiert für ein differenziertes Bild. Auf die Klimapolitik hätten die Aktivisten keinen sichtbaren Einfluss gehabt, sagt Grimm. Doch hielten sie trotz Kriegs in der Ukraine, Energiekrise und Inflation die Klimakrise in den Medien. "Das ist natürlich ein wahnsinniger Erfolg."
(Von Christopher Hirsch und Verena Schmitt-Roschmann, dpa)