Die radikalislamistischen Taliban sind wieder an der Macht, die Frauen in Kabul wieder verschleiert, westliche Streitkräfte haben Teile ihrer einheimischen Helfer bei ihrem chaotischen Abzug im Stich gelassen, Experten warnen vor einer drohenden Hungerkatastrophe. Der Gesprächsbedarf nach dem Ende des 20 Jahre dauernden Einsatzes der westlichen Allianz in Afghanistan liegt auf der Hand. Auch aus deutscher Sicht: 93.000 Soldatinnen und Soldaten waren am Hindukusch im Einsatz, 59 Männer der Truppe starben bei dem Einsatz, der - Entwicklungshilfe eingerechnet - mehr als 17 Milliarden Euro gekostet hat. Alle relevanten deutschen Parteien sind sich einig, dass eine lückenlose Aufarbeitung notwendig ist. Jetzt hat eine von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) initiierte sogenannte "Bilanzdebatte" mit Politikern und Politikerinnen, Militärs und Experten über das deutsche Engagement in Afghanistan begonnen.
Doch der Start wird von einem Streit über Zeitpunkt und Form der Aufarbeitung überschattet. Mehrere eingeladene Politiker haben ihre Teilnahme abgesagt – darunter der Außenminister. Heiko Maas (SPD) wird sich fragen lassen müssen, ob er aus Sorge vor unangenehmen Fragen fernblieb. An der Terminierung gab es allerdings auch aus der Union gab es Kritik an der Ministerin. Umstritten ist, ob es sinnvoll ist, die Gespräche zu beginnen, während das politische Berlin auf die Sondierungsgespräche zur Bildung einer Regierungskoalition fixiert ist. Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann reagierte empört. Man habe die Ministerin gebeten, den Start der Debatte nicht in die „Null-Zeit“ – also während der Sondierungen – zu legen. Dennoch zu beginnen, sei eine „Respektlosigkeit“. Kramp-Karrenbauer erklärte, dass habe den Eindruck vermeiden wollen, den für Mittwoch geplanten Großen Zapfenstreich als Anerkennung für die Leistung der Soldaten zu nutzen, um eine kritische Diskussion über den Einsatz mit dem „Glanz“ der Ehrung zu überdecken.
Für Thomas Ruttig, Direktor des Afghanistan Analysts Network, einer unabhängigen Forschungseinrichtung, ist die „Aufarbeitung des Einsatzes überfällig". Allerdings habe er den Eindruck, dass die Verteidigungsministerin das Ganze jetzt übers Knie breche. Doch seine Kritik geht tiefer: „Was mir sauer aufstößt, ist die Zusammensetzung der ersten Runde, die an dieser Bilanzdebatte teilnehmen soll. Sie besteht fast ausschließlich aus Insidern, also Politikern und Militärs. Es fehlt an unabhängigen Stimmen. Das läuft für mich auf eine Selbstbespiegelung hinaus“, sagt Ruttig im Gespräch mit unserer Redaktion. "Am besten wäre eine möglichst breit aufgestellte, unabhängige Untersuchungskommission aus Experten und Politikern mit einem breiten Mandat“, fügt Ruttig, der mehrere Jahre in Afghanistan gelebt hat, hinzu.
Generalinspektor Zorn spricht von erfolgreicher Terror-Bekämpfung
Trotz der Konflikte begann die Bilanzdebatte am Mittwoch. Geprägt war die Podiumsdiskussion zur Eröffnung von dem Versuch, der Meinung entgegenzutreten, dass die westliche Militärmission auf ganzer Linie gescheitert sei. Man habe den Terror schließlich erfolgreich bekämpft, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn. Es wäre falsch, aus dem fatalen Ende der Mission zu folgern, dass militärische Einsätze des Westens als Instrument des Krisenmanagements keine Option mehr sein können, sagte Deutschlands hochrangigster Militär. Gleichzeitig räumte Zorn ein, dass geklärt werden müsse, warum die Bundeswehr derart von dem schnellen Sieg der Taliban überrascht worden sei. Detailliert wurde über taktische, logistische und strategische Defizite des Einsatzes gesprochen - auch mit Blick auf die Konsequenzen für den laufenden und ebenfalls heiklen Einsatz der Bundeswehr in Mali.
Afghanistan-Experte Ruttig stört ganz generell, wie in Deutschland über Afghanistan gesprochen wird: „Das Gerede, dass immerhin bleibe, dass man den Menschen in Afghanistan Bildung vermittelt habe, ist ebenfalls Selbstbespiegelung. Denn es bleiben keine Strukturen bestehen, in denen die Menschen ihre erworbene Bildung jetzt noch nutzen können. Von den Hoffnungen, die geschürt wurden, ist nichts übrig geblieben“, lautet sein bitteres Fazit.
Während in Berlin über Ziel und Richtung der Aufarbeitung des Einsatzes gestritten wird, rückt in Afghanistan der Winter näher. Die Kälte dürfte eine Bevölkerung treffen, die schon jetzt schwer angeschlagen ist. Zwar schweigen die Waffen, doch die Wirtschaft liegt am Boden, eine verheerende Dürre prägte den Sommer, und der Corona-Pandemie sind viele Menschen schutzlos ausgeliefert. Schon jetzt hat jeder dritte Afghane nicht genug zu essen, warnte die Welthungerhilfe am Mittwoch. Hinzu komme eine große Zahl von innerhalb des Landes Vertriebenen, bis zu einer Million Rückkehrer aus den Nachbarländern. Auch die medizinische Versorgung ist vielerorts schlecht. Auf 97 Prozent könnte die Armutsrate im nächsten Jahr steigen, schätzt die Welthungerhilfe.
Das bedeutet, dass die Zeit knapp wird. „Aktuell ist entscheidend, dass eine Hungerkatastrophe verhindert werden muss. Wenn die Gelder der Vorgängerregierung dem Land vorenthalten werden, wird das nicht möglich sein“, sagt Ruttig. Das bedeute nicht, dass den Islamisten das Geld ausgezahlt werden soll. Die Mittel könnten "über treuhänderische, zweckgebundene Fonds" fließen. "Darüber muss der Westen mit den Taliban verhandeln. Gespräche laufen ja ohnehin schon. Und es muss schnell gehen, denn wenn der Winter kommt, droht die Katastrophe.“