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Afghanistan: Das Leben in Afghanistan ist voller Widersprüche

Afghanistan

Das Leben in Afghanistan ist voller Widersprüche

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    Zwei Jungen suchen am Ufer des Kabul-Flusses nach Plastikflaschen, die sie für wenig Geld an ein Recyclingzentrum verkaufen können. Viele Kinder in Afghanistan müssen arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen.
    Zwei Jungen suchen am Ufer des Kabul-Flusses nach Plastikflaschen, die sie für wenig Geld an ein Recyclingzentrum verkaufen können. Viele Kinder in Afghanistan müssen arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen. Foto: Oliver Weiken, dpa

    Generalmajor Chris Donahue war der letzte, der in den riesigen Flieger stieg. Auf dem Kopf ein Helm, in der Hand seine Waffe, die Armeestiefel auf die Rampe der Boeing C-17 gesetzt. Ein Nachtsichtgerät taucht das Foto, das ein Kollege von ihm aufnimmt, in ein grell-grünes Licht. Donahue postet es auf Twitter. Ein historisches Zeugnis. Ein historisches Datum. Es war der 30. August 2021. Wochen voller Chaos lagen nicht nur hinter ihm, sondern hinter dem gesamten Land, dem er da nach diesen schier endlosen Schlachten gerade den Rücken kehrte. Die US-Armee zog ihre Soldaten ab aus Afghanistan, ihr folgten alle anderen westlichen Verbündeten. Kein Blitzkrieg, sondern ein Blitzabzug. Die Taliban hatten die Macht übernommen, heuer, zwei Jahre später, soll der 31. August zum ersten Mal ein Feiertag im ganzen Land, von Kandahar bis Masar-i-Sharif, sein. Dabei ist den meisten Beobachtern so gar nicht zum Feiern zumute, wenn sie in Richtung Hindukusch blicken. 20 Jahre hat der Westen versucht, aus der bergigen Region ein stabiles Land zu formen. Die Bilanz heute ist – wohlwollend formuliert – durchwachsen.

    Zwei Kämpfer der Taliban in Afghanistan. Sie stellen ihre eigenen Regeln auf für das Land.
    Zwei Kämpfer der Taliban in Afghanistan. Sie stellen ihre eigenen Regeln auf für das Land. Foto: Siddiqullah Khan, dpa

    Der Alltag vor allem in den Städten hat sich verändert. Es gelten die Regeln der Taliban. Die Hoffnung, dass es sich bei den Radikalen mit den langen Bärten um eine „softere“, weniger dogmatische Variante ihrer Vorgänger handeln könnte, scheint sich nur in Teilen erfüllt zu haben. Zwar gibt es bis heute so etwas wie ein Kräftemessen zwischen den Pragmatikern in Kabul und den Konservativen in Kandahar, aber die Linie ist klar. Mädchen werden weitgehend von der Bildung ausgeschlossen, Schönheitssalons geschlossen, Musikinstrumente sind verboten und verbrannt. Erst vor kurzem wurden Veranstalter von Hochzeiten angewiesen, keine Musik mehr zu spielen. Und das in einem Land, in dem an allen Ecken gigantische Veranstaltungshallen mit blinkender Leuchtschrift darauf warten, dass Paare dort ihre Vermählung feiern. 

    Die Stimmung in Afghanistan ist geprägt von Perspektivlosigkeit

    Ellinor Zeino kennt das Land gut. Drei Jahre lang leitete sie das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Ein einfaches Pflaster war die Stadt nie. Laut, dreckig, gefährlich. Doch als sie im Sommer 2021 Hals über Kopf fliehen musste, tage-, ja wochenlang um ihre Mitarbeiter bangte, da fürchtete sie das Schlimmste. Wohin würde sich Afghanistan entwickeln? Zum ersten Mal seit damals war sie gerade wieder in Kabul, zwei Wochen lang tauchte sie ein in diese so andere Welt, traf sich mit hochrangigen Ministern. Sie ist eine der Ersten, die eine solche Reise unternahm. Ruhiger sei die Stadt geworden. „Die Stimmung ist von Lethargie und Perspektivlosigkeit geprägt“, erzählt sie. Vor allem die Einschränkungen bei der Bildung und die massiven wirtschaftlichen Probleme machen den Menschen zu schaffen. Auf den Straßen von Kabul seien mehr Bettler unterwegs gewesen, noch mehr Kinder müssen arbeiten und bieten den Passanten ihre Waren an. 

    Weil der staatliche Haushalt weitgehend von ausländischen Hilfszahlungen gelebt hat, die nicht mehr fließen, ist die humanitäre Lage vieler Menschen noch angespannter. Das Land ist mit Sanktionen belegt. Die Welthungerhilfe geht davon aus, dass 28,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigten – das sind zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Arbeit von Hilfsorganisationen wird gleichzeitig immer schwieriger. Rund 220 von ihnen hätten ihre Arbeit im vergangenen Jahr einstellen müssen, sagte Vizewirtschaftsminister Abdul Latif Nasari jüngst. Afghanistan gehört zu den Ländern, aus denen die meisten Flüchtlinge nach Deutschland streben: Allein in der ersten Jahreshälfte 2023 waren es 28.635 Asylsuchende – damit liegt Afghanistan nach Syrien auf Platz zwei der deutschen Asylstatistik. Waren Asylanträge aus Afghanistan früher fast chancenlos, erhalten viele Flüchtlinge inzwischen zumindest den Status als Geduldete.

    Afghanistan ist ein Land voller Widersprüche

    Doch es gibt auch die anderen Bilder. Die Cafés sind voll, neue Restaurants haben eröffnet. Wie in so vielen Ländern, in denen das Recht des Gewiefteren gilt, gibt es auch in Afghanistan Menschen, die sich an jede Situation anpassen, die profitieren. Auch die Sicherheitslage hat sich verbessert, die Zahl der Anschläge ist deutlich zurückgegangen. Frauen sind, anders als man meinen würde, nicht komplett aus dem Stadtbild verschwunden. Zwar dürfen sie keine Universitäten mehr besuchen, müssen die Schule nach der sechsten Klasse beenden. Doch in den Kleidergeschäften oder in den Banken stehen sie weiterhin und beraten die Kunden. Die Taliban isolieren sich selbst und streben doch nach internationaler Anerkennung. Afghanistan bleibt eine Welt voller vermeintlicher Widersprüche, die den Westen vor Rätsel stellen. 

    Rätsel, die die Debatte um Afghanistan seit Jahrzehnten begleiten. Angefangen von der Frage, warum man sich auf dieses Wagnis je eingelassen hat. Als der Krieg der westlichen Verbündeten gegen die Taliban im Oktober 2001 begann, war Joschka Fischer als Bundesaußenminister in die Entscheidung eingebunden. „Wenn wir Nein gesagt hätten, hätten wir die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland komplett erschüttert, zerdeppert“, sagte er kürzlich im Bundestag. Es sei damals, Anfang der 2000er-Jahre, ganz klar gewesen, dass Deutschland nach den Anschlägen islamistischer Terroristen auf die USA vom 11. September 2001 seiner Bündnisverpflichtung nachkommen und die Amerikaner unterstützen müsse. Um Lehren aus den Fehlern zu ziehen, die in Afghanistan gemacht wurde, wurde eigens eine Enquete-Kommission ins Leben gerufen.

    Ellinor Zeino war nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder in Kabul.
    Ellinor Zeino war nach zwei Jahren zum ersten Mal wieder in Kabul. Foto: Mary Papadopoulous

    Deutschland zieht im Umgang mit Afghanistan eine strikte rote Linie

    „Die größte Lehre ist wohl, dass es eine bessere Zusammenarbeit und einen besseren Austausch zwischen den Ressorts geben muss“, sagt Serap Güler, CDU-Bundestagsabgeordnete, die eine von zwölf Mitgliedern der Enquete-Kommission ist. Gefehlt habe auch ein ausreichendes Verständnis für kulturelle Gegebenheiten und die Einbindung der Zivilgesellschaft. Die kulturellen Eigenheiten sind es auch heute noch, die das Verhältnis zwischen dem Westen und Afghanistan kompliziert machen. Vor allem Deutschland verfolgt mit seinem Maßstab der „feministischen Außenpolitik“ eine rigorose Linie. Doch gerade das zu laute Pochen auf Frauenrechte, warnt Ellinor Zeino, könne in Afghanistan kontraproduktiv sein. So würden Frauenrechte zur ausländischen Agenda deklariert und bekämpft. Sie plädiert für einen pragmatischeren Ansatz. 

    Die USA verfolgen einen solchen. Einst hatten sie auf Siradschuddin Haqqani ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt. Der Mann galt als Topterrorist – heute ist er unter den Taliban Innenminister und zählt sogar zu den gemäßigten Vertretern. Die Hoffnung, dass sich die Bevölkerung gegen die Taliban wendet, hat die Biden-Regierung in Washington aufgegeben. Und das wohl zu Recht. Oppositionsgruppen, in die manche Afghanen und auch der Westen Hoffnungen gesetzt hatten, haben sich als chancenlos erwiesen. Die von den USA gestützte Regierung war hochkorrupt. Für viele Afghanen reicht es für den Moment, dass der quälend lange Krieg vorüber ist. 

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