Hunderttausende Menschen gehen auf die Straße, aufgerüttelt durch einen Bericht des Medienhauses Correctiv über ein Treffen radikaler Rechter. Das Ausmaß der Proteste ist eindrücklich - doch wie lange kann das noch dauern? Und bergen die Demonstrationen tatsächlich eine Chance auf das, worauf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoffen: eine Schwächung der AfD und rechtsextremistischer Gruppierungen?
Der politische Soziologe Rüdiger Schmitt-Beck von der Universität Mannheim beobachtet eine Eigendynamik. "Wenn regelmäßig über sechsstellige Teilnehmerzahlen berichtet wird, sinkt die Hürde für weitere Teilnehmer deutlich." Doch irgendwann sei der Scheitelpunkt erreicht, danach laufe die Mobilisierung wieder aus. "Ich gebe der Sache noch zwei, drei Wochen, dann ist der Höhepunkt vermutlich überschritten."
Die Proteste könnten vor allem die gesellschaftlichen Debatten verändern, meint der Protestforscher Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin. Überzeugte Rechtsextremisten und AfD-Anhänger werde man damit nicht zurückgewinnen. "Aber Leuten, die unentschieden, vielleicht auch weniger informiert oder politisch nicht sehr gefestigt sind, denen werden hier andere Deutungsangebote als jene der AfD gemacht."
Gegen Hass - aber Hass skandieren?
Die hohen Teilnehmerzahlen dürften auch dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners geschuldet sein. Die Demonstranten eint die Ablehnung von AfD und Rechtsextremismus. Doch schon bei der Frage, wie sich diese Haltung äußern sollte, dürften Gewerkschafterinnen, Kirchenvertreter und Antifa-Aktivisten unterschiedlicher Meinung sein.
In Aachen ermittelt mittlerweile die Staatsanwaltschaft wegen eines Plakats mit der Aufschrift "AfDler töten. Nazis abschieben!". Bei der Berliner Demonstration am Sonntag wurde Hass und Hetze von rechts verurteilt, gleichzeitig aber aus den Reihen der Demonstranten wiederholt "Ganz Berlin hasst die AfD" skandiert - ein Satz, den Teilnehmer auch andernorts riefen.
Correctiv-Enthüllung als Auslöser
Correctiv hatte ein Treffen radikaler Rechter am 25. November in Potsdam öffentlich gemacht, an dem AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen hatten. Der frühere Kopf der Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte bei dem Treffen nach eigenen Angaben über "Remigration" gesprochen.
Wenn Rechtsextremisten diesen Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine große Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll - auch unter Zwang. Laut einer aktuellen YouGov-Umfrage haben die Berichte dem Bild der AfD bei jedem zweiten Befragten geschadet. Doch nicht nur die politische Konkurrenz, auch die AfD selbst berichtete zuletzt von einem Mitgliederzuwachs.
Protestforscher: Forderungen entwickeln
Und was kommt nach den Protesten? "Ohne den Ansatz einer gemeinsamen Analyse und greifbarer politischer Forderungen wird es sehr schwer sein, ein so breites Bündnis aufrechtzuerhalten", sagt Ullrich. Aber zivilgesellschaftliche Bündnisse könnten lokal aktiv bleiben und dort die Kultur verändern. "So eine Bewegung kann auch den Charakter eines losen Netzwerks haben." Gemeinsame Themen könnten vielleicht die Forderung nach einem AfD-Verbot oder der Ruf nach politischen Konstellationen jenseits der Partei sein, meint der Protestforscher.
Soziologe Schmitt-Beck warnt davor, es sich zu einfach zu machen im Umgang mit der AfD. "Man muss die Argumentation der Partei genau kennen und darlegen können, wo sie den Grundwerten der liberalen Demokratie und dem Grundgesetz widerspricht", sagt er. "Sich empören und "Nazis raus" rufen, reicht da nicht. Journalisten, Politiker, aber auch die Bürgerinnen und Bürger, die in ihrem Alltag AfD-Wählern begegnen, müssen diese argumentative Kleinarbeit auf sich nehmen, auch wenn das schwer ist."
Studien aus dem Ausland legen zumindest nahe, dass Demonstrationen Wahlergebnisse beeinflussen können - und zwar jeweils zulasten der bestreikten Partei. Hinweise darauf fanden Forscher bei Untersuchungen zur französischen Präsidentenwahl 2002 als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen am Ende dem Konservativen Jacques Chirac unterlag, bei Regionalwahlen in Norditalien 2020 als die "Sardinen"-Bewegung gegen die rechtspopulistische Lega mobilmachte sowie zu Protesten gegen die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte in Griechenland zwischen 2009 und 2019.
Es ging in allen drei Untersuchungen um das Zusammenspiel lokaler Proteste mit kommunalen Abstimmungsergebnissen. Über die Studien berichtete auch der MDR in einem Artikel.
Steinmeier: Demos gegen rechts können Demokraten "stolz machen"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich erfreut über die großen Demonstrationen gegen rechts gezeigt, zugleich aber weitergehendes Engagement für die Demokratie angemahnt. "Ich freu mich darüber und bin dankbar, dass die demokratische Mitte der Gesellschaft aufgewacht ist", sagte Steinmeier dem SWR-Hauptstadtstudio. Die Demonstrationen würden beweisen, dass nicht die lautstarken Verächter der Demokratie in der Mehrheit seien: "Das darf Demokraten selbstbewusst und auch ein bisschen stolz machen", betonte das Staatsoberhaupt.
Diese Demonstrationen könnten aber nicht politisches Engagement ersetzen, sagte Steinmeier auf die Frage, wie es weitergehe mit den Protesten. Seine Bitte an Unzufriedene sei, runter vom Sofa zu kommen und sich aktiv für die Gemeinschaft einzusetzen. Demokratie lebe vom Engagement ihrer Bürger. In keinem Land gebe es so gute Möglichkeiten dazu wie in Deutschland. Dazu müsse Menschen, die politische Verantwortung übernehmen gerade auf kommunaler Ebene, aber auch wieder mehr Respekt entgegengebracht werden, mahnte Steinmeier.
Landtagswahlen: Rutscht die AfD ab?
Was die aktuelle Mobilisierung für die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst bedeuten könnte, ist schwer zu sagen. Ein leichtes Abrutschen der AfD in der Wählergunst zeichnet sich in jüngsten bundesweiten Umfragen von Forsa und Insa zwar ab, auf 20,0 und 21,5 Prozent. Das entspricht indes über mehrere Monate hinweg üblichen Schwankungen.
In einigen ostdeutschen Bundesländern lag die AfD mit mehr als 30 Prozent der Stimmen bei letzten Umfragen auf Platz 1. Und: Die Landtagswahlen sind erst im September, eine politische und mediale Ewigkeit entfernt.
(Von Martina Herzog, dpa)