Angela Merkel soll schon eine Tabelle erstellt haben. Eine Tabelle, so erzählt man sich, in der ihre nächsten Jahre als Privatperson vorgeplant sind. Offiziell bestätigt ist das nicht, es passt aber zu Merkel, die als Fan von Diagrammen bekannt ist.
Bis zur letzten Minute erfüllte die Bundeskanzlerin ihren Amtseid, stellte sich 16 Jahre lang in den Dienst des Volkes. Doch nun, endlich wird sie wohl sagen, winkt ein Leben weitgehend ohne Politik. Konkrete Zukunftspläne hat die CDU-Politikerin nicht preisgegeben. Äußerungen in verschiedenen Interviews und aus ihrem Umfeld lassen jedoch zumindest erahnen, wie die 67-Jährige ihren Ruhestand gestalten wird.
Das Leben, sagt Merkel, müsse einen Wert an sich haben. Doch wie soll der aussehen? Die Physikerin geht die Antwort, so wird aus ihrem engeren Zirkel berichtet, mit viel Nachdenklichkeit und ganz pragmatisch an. Was feststeht: Zunächst wird Merkel „für eine monatelange Zeit keine Termine wahrnehmen“, wie ihr langjähriger Sprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin noch einmal bestätigte. Verwundern kann das nicht, vor allem die letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft waren enorm kräftezehrend. Seit der Aufregung um den Zuzug von Flüchtlingen im Herbst 2015 kam sie, die schon vorher viel zu tun hatte, praktisch gar nicht mehr zur Ruhe. „Die 16 Jahre als Bundeskanzlerin waren ereignisreiche und oft sehr herausfordernde Jahre. Sie haben mich politisch und menschlich gefordert und zugleich haben sie mich immer auch erfüllt“, so fasst Merkel selbst ihre Amtszeit zusammen.
Jetzt kann Merkel wieder ein gesundes Leben führen
Die Zitteranfälle häuften sich im Lauf der Zeit, das Publikum in aller Welt konnte verfolgen, dass Merkel immer öfter immer müder wirkte. Regierungschefs wie der französische Staatspräsident Emmanuel Macron oder Ex-US-Präsident Barack Obama sind als Jogger bekannt, die ihre Fitness neben dem anstrengenden Job beibehielten. Ähnliche Pläne gab es einst bei Merkel auch, doch wo die Zeit hernehmen, wenn man ständig gefragt ist? Deutschland hatte sich schließlich, in der Corona-Krise wurde es besonders deutlich, darauf eingerichtet, dass die Kanzlerin es schon irgendwie richten wird. Ein gesundes Leben wird für den Wander- und Skilanglauffan erst jetzt wieder möglich sein.
Beim Großen Zapfenstreich wird am vergangenen Donnerstagabend deutlich, wie groß die Last ist, die von Merkel abfällt. Nur noch ein paar Tage ist sie geschäftsführend im Amt, am kommenden Mittwoch soll Olaf Scholz (SPD) im Bundestag zu ihrem Nachfolger gewählt werden. Bei dem Zeremoniell auf dem Appellplatz des Verteidigungsministeriums reißt sich Merkel noch einmal zusammen, als die letzten Klänge des Stabsmusikkorps der Bundeswehr verklungen sind, lächelt sie befreit auf.
Aus einem bereitstehenden Strauß pflückt sie eine rote Rose für sich heraus, eine weitere drückt sie verschmitzt ihrer Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in die Hand. Anschließend setzt sich Merkel in die gepanzerte Dienstlimousine neben ihren Ehemann Joachim Sauer, lächelt fröhlich in die Runde und winkt der Menge, ein seltenes Bild, schon fast ein wenig huldvoll zu.
Umgeben ist Merkel beim Zapfenstreich von einigen der Menschen, denen sie in ihrer wohl letzten Rede vor der Nation „einen ganz besonderen, herausgehobenen Dank“ ausspricht, nämlich ihren „engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“. Für Merkel zählen dazu die Beamtinnen und Beamten ihres Personenschutzkommandos, von denen einige sie schon seit Amtsantritt beschützten. Sie waren da, wenn Merkel in langen Nächten über die Bankenunion verhandelte, sie bewachten sie erfolgreich auf ihren zahlreichen Auslandsreisen, auf ihren wenigen Urlauben und in den paar Stunden Freizeit in ihrer Datsche in der Uckermark.
Eine andere, die gemeint sein dürfte, ist Merkels langjährige Büroleiterin Beate Baumann, auf die sie sich seit ihrer Zeit als Bundesjugendministerin drei Jahrzehnte lang verlassen konnte. Der baldigen Altkanzlerin steht auf Lebenszeit ein Büro nebst Ausstattung zur Verfügung – Baumann wird es nicht leiten. Regierungssprecher Seibert, den sie im August 2010 vom ZDFabgeworben hatte, war ebenfalls eng in ihre Arbeit eingebunden. Der 61-Jährige hat seine Zukunftspläne noch nicht kundgetan, er dürfte zunächst die Geschäfte als Regierungssprecher und Chef des Bundespresseamtes geordnet in die Hände seines Nachfolgers Steffen Hebestreit übergeben, sich dann auch eine Pause gönnen. Was bei Merkel, Baumann, Seibert undenkbar scheint: dass sie ihre Kontakte versilbern.
Merkel in einem Aufsichtsrat? Schwer vorstellbar
Merkel unterscheidet sich von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder nicht nur darin, dass der SPD-Politiker aus dem Amt gedrängt wurde, während sie ihre politische Karriere selbstbestimmt beendet hat. Schröder verdingte sich nach seiner Kanzlerschaft als Wirtschaftslobbyist, von Merkel kann sich niemand denken, dass sie auf einem Aufsichtsratsstuhl Platz nehmen wird, wie es ihr Vorgänger unter anderem bei Nord Stream getan hat.
„Ich kann mir vorstellen, immer wieder auf den Zusammenhang zwischen unserem Wohlstand, Forschung und Innovation hinzuweisen – aber sicher werde ich wissenschaftlich nicht mehr aktiv“, sagte sie kürzlich der Nachrichtenagentur Reuters. Mittlerweile habe sich ihr „Hauptinteresse auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge verlagert“. Ihre Entwicklung könne man daran sehen, dass zu ihrem 50. Geburtstag der Hirnforscher Wolf Singer gesprochen habe, zum 60. dann der Historiker Jürgen Osterhammel. „Und dahin gehen meine Gedanken jetzt auch verstärkt. Mich beschäftigen mittlerweile Fragen wie diese: Wie kann man die geschichtliche Entwicklung verstehen, wie kann man sie global vergleichen? Wie hat sich China über 2000 Jahre entwickelt, wie Europa? Und viele mehr.“
Ob aus solchen Gedanken ein Buch entstehen wird? Gerhard Schröder und Altkanzler Helmut Kohl waren so begeistert von sich selbst, dass sie ihre Erfahrungen unbedingt der Nachwelt vermachen wollten. Merkel ist anders gestrickt. „Wenn ich heute hier vor Ihnen stehe, dann empfinde ich vor allem dieses: Dankbarkeit und Demut – Demut vor dem Amt, das ich so lange ausüben durfte; Dankbarkeit für das Vertrauen, das ich erfahren durfte“, sagt sie beim Zapfenstreich.
Das Großsprecherische, das Schulterklopfen war nie ihr Ding. Es dürfte wohl darauf hinauslaufen, dass die Welt die Merkel der Zukunft als Rednerin auf ausgewählten Veranstaltungen erleben wird. Wenn sie es tut – solche Vorträge werden mit bis zu 100.000 Euro honoriert –, dann sicherlich nicht aus finanziellen Gründen. Merkel hat mit zuletzt rund 30.000 Euro Monatsgehalt – Amtsbezüge plus die um 50 Prozent gekürzte Abgeordnetenentschädigung – ordentlich verdient, ihr Ruhegehalt beläuft sich auf etwa 15.000 Euro im Monat. Aber schon zu Beginn ihrer Amtszeit hatte sie den Wunsch geäußert, einst wieder auf Reisen gehen zu können. Entlang der Westküste der USA zum Beispiel, und warum das dann nicht mit einem Vortrag an der Universität Berkeley kombinieren, wo sie ohnehin schon als Rednerin gefeiert wurde?
Die Dienstwohnung im Kanzleramt bewohnte sie nie
Ein paar Dutzend Ehrendoktorwürden hat Merkel verliehen bekommen, da dürfte sich manch Einrichtung finden lassen, die der Altkanzlerin bereitwillig den roten Teppich ausrollt. Der afrikanische Kontinent zählte zu ihren bevorzugten Dienstreisezielen. Auch da gibt es Potenzial, zumal in der Kombination mit der Förderung von Frauen, der sie sich die gesamte Amtszeit über verschrieben hatte. Sollten Nichtregierungsorganisationen die Expertise der erfahrenen Politikerin nachfragen, dürfte auch das Erfolg haben. Die Kanzlerin zeigte sich oft mit Menschenrechtsgruppen gerade in solchen Ländern, die es mit den Grundrechten nicht genau nehmen. In Mexiko traf sie Vertreterinnen und Vertreter der unterdrückten indigenen Völker, Ähnliches passierte in Angola und der Mongolei. Das geschah nicht aus Effekthascherei, sondern in dem Bewusstsein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit den Gastgebenden Schutz vor Repressalien bietet und gar bedrohte Leben schützen kann. Merkels Kanzlerschaft endet zwar, ihre Reputation und ihr Einfluss jedoch bleiben sicherlich noch einige Zeit erhalten.
Viele Erinnerungen bleiben, aus dem Kanzleramt wird Merkel jedoch nur wenig mitnehmen können. Die kleine Dienstwohnung dort hat sie nie bezogen. Die Bilder an der Wand ihres großen Büros im siebten Stock suchte sie zwar selbst aus, sie sind aber Staatseigentum. Das ein oder andere kleine persönliche Stück könnte sie vielleicht einpacken. Für die vielen, teils sehr wertvollen Staatsgeschenke gilt jedoch, dass Merkel sie als Amtsträgerin, nicht als Privatperson entgegengenommen hat: Sie gehörten ihr, solange sie Kanzlerin war. Ab kommender Woche besitzt sie der Staat.
Die 67-Jährige wird sich umgewöhnen müssen. Ein Portemonnaie musste sie die letzten 16 Jahre kaum mit sich führen. Einen Reisepass auch nicht, für die Kosmetik stand eine Mitarbeiterin nebst großem Schminkkoffer zur Verfügung. Sie musste nicht vor einem Flughafen-Gate Schlange stehen, für Essen, Trinken, eine Unterkunft war gesorgt. Ihre Stadtwohnung am Kupfergraben in Berlin-Mitte wird sie, so ist zu hören, wohl behalten und muss zumindest nicht auf Wohnungssuche gehen.
Doch das alles ist noch Zukunftsmusik für die Wagner-Begeisterte. Merkel wird erst einmal eine Pause einlegen und darüber nachdenken, „was mich so eigentlich interessiert“, wie sie im Juli bei ihrem USA-Besuch erklärte und mit einem Lächeln ergänzte: „Und dann werde ich vielleicht versuchen, was zu lesen, dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal.“
Bislang war ihr Tagesablauf auch im Urlaub von Telefonaten, Konferenzen, Lageberichten und Pressemappen geprägt. Konsultationen zwischen der neuen und der alten Regierung sind in den ersten Monaten üblich. Aber sollte sie später in politischem Phantomschmerz reflexhaft zum Hörer greifen, „dann wird mir ganz schnell einfallen, dass das jetzt ein anderer macht“, sagte Merkel jüngst. „Und ich glaube, das wird mir sehr gut gefallen.“
Auch Merkel hatte er schon oft vor der Linse: Hören Sie sich zum Ende der Ära Merkel auch unseren Podcast mit dem bekannten Fotografen Daniel Biskup an.