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Zweiter Weltkrieg: Wie eine Krankenschwester half, Friedberg zu retten

Zweiter Weltkrieg

Wie eine Krankenschwester half, Friedberg zu retten

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    Um die US-Truppen zu stoppen, haben die Nazis am oberen Ende des Friedberger Berges eine Panzersperre aufgebaut.
    Um die US-Truppen zu stoppen, haben die Nazis am oberen Ende des Friedberger Berges eine Panzersperre aufgebaut. Foto: Rolf Neumaier/Stadt Friedberg

    Als sie es hört, weiß Anna Wolferseder noch nicht, dass sie in weniger als zwei Stunden zusammenbrechen wird. Dieses Dröhnen am Himmel. Am Abend zuvor ist ein heftiges Gewitter über Friedberg gezogen. Doch dieses Dröhnen klingt anders. Es ist die gespenstische Hintergrundmelodie jenes Tages, der das Schicksal der jungen Frau und ihrer Heimatstadt entscheiden wird.

    Anna Wolferseder arbeitet für das Rote Kreuz. In ein paar Minuten beginnt ihr Dienst. Sie zieht die Uniform an und verlässt das Haus am unteren Ende der steilen Bergstraße, die in die Stadt führt. Sie weiß nicht, dass sie ihr Ziel nicht erreichen wird. Sie weiß nicht, dass sie in weniger als zwei Stunden zusammenbrechen wird.

    Es sind die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges. Doch auch das kann die Krankenschwester nicht wissen. In jener Nacht zum 28. April 1945 hat sie aus dem nahen Augsburg Sirenen gehört. Es sind Stunden voller Angst für die Friedberger. Viele harren in Bunkern und Kellern aus. Es gibt keinen Zweifel: Die Amerikaner sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Am Vormittag macht die Nachricht die Runde, dass

    Um Augsburg wurde ein Verteidigungsring gebildet

    Werden sie die Stadt, die den Krieg bislang wie durch ein Wunder ohne große Zerstörung überstanden hat, angreifen? Werden doch noch Bomben fallen? Werden sich die in Friedberg verbliebenen Nazi-Truppen ergeben oder alle mit ins Verderben reißen?

    Wenige Tage zuvor hatten die Amerikaner von Norden kommend die Donau überquert. Die Region war erreicht. Bei Luftangriffen auf Memmingen starben 300 Menschen. SS-Führer Heinrich Himmler befahl, jede Stadt zur Festung zu machen. Auch auf Günzburg,

    Wer eine weiße Fahne aus dem Fenster hängt, soll erschossen werden. Das sterbende NS-Regime will es so. Am Friedberger Rathaus weht keine weiße Fahne, als Bürgermeister Franz Xaver Schambeck zum Telefon greift. Es ist der Moment, in dem eine junge Krankenschwester zwischen die Fronten gerät.

    Anna Wolferseder ging an das klingelnde Telefon des Nachbars

    Anna Wolferseder geht auf dem Weg zur Arbeit an der Werkstatt ihrer Nachbarn vorbei. Durch ein geöffnetes Fenster hört sie das Telefon klingeln. „Ich habe mich noch gewundert, wer das sein könnte, die meisten Leute waren ja im Bunker – und dann bin ich einfach rein und habe abgehoben“, erzählt sie. Sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Aus der jungen Krankenschwester ist eine alte Frau geworden. Anna Wolferseder hat ein erfülltes Leben gelebt. Ein Leben, das ohne Zweifel anders verlaufen wäre, hätte sie nicht an jenem Tag im April 1945 den Telefonhörer abgenommen. Wenn sie über diesen Moment spricht, sind ihre blauen Augen hellwach.

    Der Bürgermeister ist dran. Er will wissen, ob „Unterm Berg“ schon Amerikaner stehen. Es sind nur wenige Meter bis zur Straße. Dort tut sich tatsächlich etwas. Sie legt den Hörer zur Seite und geht hinaus. Am Himmel: dieses Dröhnen. Sie läuft auf eine Gruppe von Männern zu. Es sind amerikanische Offiziere, die herausfinden sollen, ob in Friedberg noch Widerstand zu erwarten ist. Sie entscheiden darüber, ob die Stadt zum Abschuss freigegeben wird – im wahrsten Sinne des Wortes. Und dann kommt diese junge Frau und fragt einigermaßen naiv, wer sie überhaupt seien.

    „Die Amerikaner haben mir dann sehr unhöflich mitgeteilt, dass sie Friedberg in zehn Minuten in Schutt und Asche legen, wenn sich die Stadt nicht ergibt.“ Ein Offizier zeigt mit dem Finger nach oben. Am Himmel kreisen bereits Kampfflugzeuge. Dieses Dröhnen.

    ---Trennung _Werden die Bomber losgeschickt?_ Trennung---

    Der Bürgermeister soll sich ergeben oder Friedberg wird beschossen

    Anna Wolferseder spricht kaum Englisch. „Doch in dem Moment habe ich alle Sprachen geredet – Englisch, Italienisch, Deutsch, alles durcheinander.“ Sie fleht die Männer an, ihr Haus, ihre Heimatstadt zu verschonen. Erst dann fällt ihr wieder ein, dass am Telefon ja noch immer Bürgermeister Schambeck auf eine Antwort wartet. Die Männer schicken sie mit einer unmissverständlichen Botschaft zurück ins Haus: Wenn der Bürgermeister nicht sofort persönlich mit einer weißen Fahne den Berg hinunterkommt, wird Friedberg in wenigen Augenblicken nicht mehr die Stadt sein, in der sie aufgewachsen ist.

    Das ist keine leere Drohung. Am selben Tag wird – keine 15 Kilometer nördlich – der Ort Gebenhofen massiv beschossen. Dort befindet sich eine Flakstellung der Nazis. Am Abend werden mehr als 30 Gebäude abgebrannt sein. Das wissen die Menschen in Friedberg zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch Anna Wolferseder ist nicht die Einzige, die spürt, dass es jetzt vielleicht auf Minuten ankommt. Mehrere Bürger versuchen, den Amerikanern entgegen zu fahren, zu laufen, zu radeln. Doch wie sollen sie an der SS vorbeikommen, die kurz zuvor mit einer 30 bis 40 Mann starken Einheit in die Stadt eingezogen ist?

    Die SS bleibt dem Nazi-Wahn verfallen. Als einige Friedberger einen Tag vorher die Panzersperre aus Baumstämmen am oberen Ende des Berges abbauen wollten, gaben SS-Leute Warnschüsse ab und vertrieben die Männer. Doch etwa 50 mutige Frauen wollen sich dem Wahnsinn nicht beugen. Ihnen ist klar: Wenn die Amerikaner auf Hindernisse stoßen, werden sie die Stadt eben mit Gewalt erobern.

    Die Zeit tickt für Friedberg: Werden die Bomber losgeschickt?

    Ganz in der Nähe der Panzersperre gibt es einen kleinen Bauernhof. Anna Altmann ist dabei, als die Frauen dort Kühe und Ochsen holen. „Mit denen haben wir dann die Stämme aus dem Boden gezogen, damit die Amerikaner durchkommen“, erzählt sie heute. Hatte sie denn keine Angst? Schließlich beobachteten fanatische SS-Männer jeden Handgriff. „Darüber haben wir damals gar nicht nachgedacht, wir haben uns einfach zusammengetan“, sagt sie. Auf Frauen zu schießen, wagen die Nazis nicht. Doch das schwere Unwetter beendet die Aktion. Über Nacht gelingt es der SS teilweise, die Sperre wieder aufzubauen.

    Anna Wolferseder hat am Fuß des Berges von all dem nichts mitgekriegt. Bürgermeister Schambeck versichert ihr am Telefon, dass er die Stadt kampflos freigeben und den Berg herunterkommen wird. Warten. Die Amerikaner schauen auf die Uhr. Sie werden ungeduldig. Wieder klingelt das Telefon. Anna Wolferseder wird blass, als sie hört, dass der Bürgermeister sein Versprechen nicht einhalten wird. Er sagt, die SS halte ihn im Rathaus fest. Heute ist es schwer zu beurteilen, ob er wirklich bedroht wurde, oder ob es ihm vielmehr schwer fiel, mit dem NS-Regime zu brechen, das ihn ins Amt gebracht hatte, dem er gedient hatte. Jedenfalls droht sein neuerlicher Anruf zum Startsignal für das Inferno zu werden.

    Das weiß auch Anna Wolferseder. Verzweifelt steht sie vor den US-Offizieren, die nun endgültig die Geduld verlieren, auf die Uhr deuten und mit ihren Funkgeräten hantieren. „Nur einer von ihnen ist ganz ruhig und freundlich geblieben“, erzählt sie 70 Jahre später. An diesem Mann hängt jetzt das Wohl und Wehe der Stadt. Er hält seine Kameraden zurück. Noch. Er schickt die Bomber nicht los. Noch.

    ---Trennung _Die amerikanischen Panzer stehen am Rathaus_ Trennung---

    US-Kampfflieger rasten im Tiefflug über Friedberg und erschossen wahllos Menschen

    Dass die Amerikaner in dieser letzten Phase des Krieges nicht zimperlich waren, haben die Friedberger Tage zuvor selbst erlebt. Kampfflieger rasten im Tiefflug über die Stadt. Die Besatzung schoss wahllos auf Menschen. Die Frau des Metzgermeisters Kaindl wurde getötet – direkt vor ihrem Haus.

    Werden sie jetzt wieder schießen? Stadtpfarrer Alois Brugger notiert in sein Verkündbuch: „Auf Handkarren und Wägelchen drängen sich zahlreiche Friedberger mit schnell zusammengerafften Habseligkeiten dem Walde zu.“ Bürgermeister Schambeck verspricht, jemanden hinunter zu schicken. Doch die US-Offiziere glauben ihm nicht mehr. Außerdem wissen sie, dass oben in der Stadt noch SS-Kämpfer sind. Sie wollen nicht mehr warten. Anna Wolferseder bettelt um ein paar weitere Minuten. Dann rät ihr der besonnene Offizier: „Gehen Sie lieber in den Bunker.“ Das Todesurteil scheint gefallen. Die junge Frau zittert am ganzen Körper. Am Himmel kreisen die Flugzeuge. Noch immer dieses Dröhnen.

    Auch die Menschen oben in der Stadt ahnen, dass dies die Schicksalsstunde Friedbergs ist. Sie reden auf die SS-Leute ein, versuchen, sie zum Aufgeben zu bewegen. Sie bieten ihnen sogar Zivilkleidung an, damit sie unerkannt fliehen können. Bloß weg von hier, bevor die Amerikaner kommen und doch noch die Nerven verlieren.

    17.30 Uhr: Die SS ist abgezogen, die amerikanischen Panzer stehen am Rathaus

    Plötzlich rennen zwei Männer den Berg hinunter. Ein Kaufmann, der gut Englisch spricht, und ein Polizist. „Als die mit der weißen Fahne um die Kurve gesaust sind, da wusste ich: Jetzt geht es doch gut aus, jetzt sind wir gerettet“, sagt Anna Wolferseder. Sie erzählt es, als wäre es letzte Woche passiert. Sie fasst sich ans Herz und atmet tief durch. Die beiden Männer überbringen im Auftrag des Bürgermeisters die Kapitulation. Es kann gut sein, dass sie mitbekommen, wie in diesem Moment eine junge Krankenschwester zusammenbricht.

    Als der erste Panzer den steilen Berg hinauf rollt, ergreifen die letzten SS-Leute die Flucht. Der Stadtpfarrer schreibt: „Gegen 17.30 Uhr rief es durch die Stadt: Die SS ist abgezogen, die amerikanischen Panzer stehen bereits beim Rathaus. Die weißen Flaggen heraus!“

    Bürgermeister Schambeck bleibt hin- und hergerissen. Erst will er den Soldaten entgegen laufen, dann kehrt er doch wieder um. Er geht die Stufen zu seinem Büro hinauf und wartet. In Friedberg erzählt man sich später, er habe die eintreffenden US-Soldaten in Parteiuniform mit „Heil...“ begrüßt und sich das gewohntermaßen folgende „Hitler“ dann gerade noch verkniffen. Schambeck wird auf einem Panzer Richtung Augsburg abtransportiert. Der Krieg ist zu Ende. Zumindest in Friedberg.

    Anna Wolferseder ist heute fast 95 Jahre alt. Sie lebt noch immer „Unterm Berg“. Wenige hundert Meter entfernt von der Stelle, an der sich in einer Zeit vor unserer Zeit das Schicksal der Stadt entschieden hat. Der Offizier, der ihr und Friedberg die entscheidenden Minuten geschenkt hatte, schrieb ihr noch eine Zeit lang Briefe. Auf die Frage, ob die Rettung der Stadt vielleicht auch dem Umstand zu verdanken ist, dass sich da ein Amerikaner ein bisschen in eine hübsche Krankenschwester aus Bayern verguckt hat, lächelt sie. „Wer weiß...“

    Hier finden Sie unser großes Multimedia-Special zur Augsburger Bombennacht

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