Herr Schuster, was bedeutet es heute, 74 Jahre nach dem Ende des Holocaust, als Jude in Europa zu leben?
Josef Schuster: Die Frage, das sage ich ganz ehrlich, irritiert mich ein wenig. Ich denke, dass es eigentlich etwas Selbstverständliches sein sollte, als jüdischer Mensch in Europa, in den USA oder natürlich in Israel zu leben. Einer solchen Frage sollte es also gar nicht bedürfen.
Die Realität sieht leider anders aus. Nochmals gefragt: Glauben Sie, dass jüdisches Leben in Deutschland eines Tages wieder selbstverständlich wird – ohne Polizeischutz, ohne Attentate?
Schuster: Ich hoffe. Allerdings gehe ich davon aus, dass ich diesen Zeitpunkt nicht mehr erleben werde.
Das ist sehr pessimistisch.
Schuster: Das ist realistisch. Schauen Sie doch auf die letzten 20 Jahre. Den Optimismus, dass jüdisches Leben so selbstverständlich ist wie katholisches oder evangelisches, kann ich nicht aufbringen. Vielleicht sind wir im Moment sogar so weit davon entfernt wie lange nicht.
Durch die AfD?
Schuster: Durch eine Entwicklung in der Gesellschaft, an der die AfD ihren Anteil hat und die sie verstärkt. Allerdings wäre es zu simpel, ihr an allem die Schuld zu geben. Eine ganz große Rolle spielen auch die sozialen Netzwerke, in denen Verschwörungsmythen verbreitet werden. Und zwar ungefiltert. Falschaussagen, Lügen – das spielt eine ganz große Rolle.
Braucht das Internet neue Regeln?
Schuster: Ich denke, definitiv ja. Das Problem ist allerdings, dass viele Server in den USA stehen und dort gilt „freedom of the speech“: Redefreiheit. Die Meinungsfreiheit wird dort fast uneingeschränkt gewährt. Das kann ich nicht nachvollziehen. Bei mir hört Freiheit da auf, wo die Menschenwürde verletzt wird.
Fühlen Sie sich bedroht?
Schuster: Nun, nicht umsonst besteht die Notwendigkeit, jüdische Einrichtungen polizeilich zu schützen. Was ich ausgesprochen bedauere. Eine Synagoge sollte eigentlich so selbstverständlich sein wie der Augsburger Dom oder die evangelische Stadtkirche, in die man einfach hinein- und hinausgehen kann, wie es einem gefällt. Ich persönlich fühle mich aber nicht bedroht.
Fühlen Sie sich durch Ihren jüdischen Glauben als, wie sollen wir sagen: „Exot“ in Deutschland?
Schuster: Definitiv nicht. Ich lebe seit meinem zweiten Lebensjahr in Würzburg. Ich war hier im Kindergarten, bin ins Gymnasium gegangen, habe hier studiert, übe hier meinen Beruf als Arzt aus. Ich fühle mich als Würzburger wie jeder andere. Dass ich eine andere Religion als die Mehrheit habe? Okay. Das ist für mich Normalität.
Werden Sie in Ihrem Alltag darauf angesprochen, dass Sie Jude sind?
Schuster: Da müssen wir differenzieren. Warum werde ich angesprochen? Weil ich seit 1998 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Würzburg bin. In der Zwischenzeit sind ein paar Funktionen hinzugekommen ... Aber wenn ich keine Funktion hätte, würde mich kein Patient auf meinen jüdischen Glauben ansprechen. Warum auch? Sie werden Ihren Hausarzt vermutlich auch noch nie nach seiner Konfession gefragt haben. Wenn mich jemand fragt, würde ich es nicht verheimlichen. Aber ich würde doch nicht mit einem Schild um den Hals herumlaufen, die Hand hochhalten und sagen: Sie sind bei einem jüdischen Arzt. Und ganz ehrlich: Wer ein Problem mit einem jüdischen Arzt hat, der kommt ohnehin nicht in meine Praxis.
Sie sind Arzt, betreiben eine Praxis. Wie hat sich Ihr Berufsalltag durch das Amt des Zentralratspräsidenten verändert?
Schuster: Vor allem kostet das Amt Zeit. Als ich das Amt übernommen habe, habe ich gesagt: Ich möchte vier Tage in der Woche in der Praxis sein. Nun bin ich gastroenterologisch tätig, meine Patienten müssen nüchtern zur Magenspiegelung kommen – wer will das schon nachmittags um drei machen? Wenn ich also vier Tage in der Woche bis 13 Uhr in der Praxis bin, bin ich schon ganz zufrieden. Danach fahre ich mitunter zu Terminen nach Berlin und komme nachts zurück.
Warum sprechen wir gerade jetzt wieder verstärkt über Antisemitismus?
Schuster: Ein Thema war Antisemitismus eigentlich immer. Wir sprechen nur nach herausragenden negativen Ereignissen, wie etwa dem Anschlag in Halle, wieder mehr darüber. Was sich allerdings tatsächlich verändert hat: Antisemitismus wird wieder offener geäußert. Menschen trauen sich, das zu sagen, was sie sich lange Zeit nicht getraut haben. In den vergangenen Monaten und Jahren wurden rote Linien verschoben. Und aus Worten wurden Taten.
Wem geben Sie die Verantwortung?
Schuster: Die Verantwortung für die verschobenen roten Linien gebe ich vor allem einer Partei wie der AfD. Sie bricht bewusst Tabus, indem sie zum Beispiel die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert. Und wenn „die“ das in Berlin sagen dürfen, dann wird man das doch auch in Augsburg, in Würzburg, überall sonst auch sagen dürfen. So verändert sich das gesellschaftliche Klima.
Hören Sie auch unseren Podcast mit Barbara Staudinger, Leiterin des Jüdischen Museums in Augsburg:
Geht unsere Justiz mit den Bedrohungen zu zahm um?
Schuster: Ganz knallhart: Ja. Ich erinnere an den Molotow-Angriff auf die Synagoge in Wuppertal, der als Ausdruck des Protestes gegen die israelische Politik als Sachbeschädigung geahndet wurde. Wenn eine Synagoge angegriffen wird, dann ist das aber für mich kein Ausdruck einer politischen Meinung, sondern Antisemitismus. Kürzlich habe ich einen Brief des Polizeipräsidenten von Dortmund bekommen, der mir schon fast verzweifelt entschuldigend schreibt, bei ihm demonstriere „Die Rechte“ mit eindeutig antisemitischen Aussagen. Er habe versucht, das Ganze über das Veranstaltungsrecht zu verbieten – erfolglos. Äußerungen wie „Nie wieder Israel“ seien eine persönliche Meinungsäußerung, hieß es.
Ist die Polizei überhaupt in der Lage, solchen Strömungen zu begegnen? Ist es nicht Aufgabe der Gesellschaft, hier rote Linien zu ziehen?
Schuster: Ich gebe Ihnen recht, der Kampf gegen den Antisemitismus ist definitiv nicht nur Aufgabe von Justiz und Polizei, sondern eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft. Ich rufe deshalb zu Zivilcourage auf. Jeder von uns hat es doch schon erlebt, dass im Freundeskreis oder im Kollegenkreis dumme Sprüche gemacht wurden – antisemitisch, rassistisch, fremdenfeindlich, frauenfeindlich. Wer das hört, sollte hergehen und sagen: Weißt du eigentlich, was du da gesagt hast? Da kann man eine ganze Menge machen.
Hat unsere Gesellschaft überhaupt die notwendige Sensibilität dafür, dies zu erkennen?
Schuster: Offensichtlich nicht. Aber sie scheut vor allem – da müssen wir uns alle an der Nase fassen, ich mich auch – Konflikte.
Trotz ihrer rassistischen und in Teilen antisemitischen Haltung feiert die AfD Wahlerfolge. Frustriert Sie das nicht manchmal?
Schuster: Es frustriert mich wirklich! Ich fühle mich ein bisschen an das erinnert, was mein Vater (Jahrgang 1910) oft gesagt hat: Wenn sich Große Koalitionen bildeten, verspürte er in Erinnerung an die Weimarer Republik immer ein Unbehagen. Ihn trieb die Sorge um, dass dadurch die Ränder gestärkt werden. Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass wir gerade in so einer Situation sind. Das heißt aber nicht, dass ich möchte, dass die Große Koalition zerbricht, damit wir Neuwahlen haben. Das Erschreckende ist doch eigentlich, dass die AfD in Bundesländern Erfolg feiert, denen es wirtschaftlich gar nicht schlecht geht.
Warum gelingt es der AfD so gut, die Ängste bei Menschen – gerade im Osten – zu schüren?
Schuster: Die Menschen in den neuen Bundesländern haben vor 30 Jahren einen tiefen Bruch erlebt. Plötzlich wurden Betriebe zugemacht, fielen Arbeitsplätze weg. Das prägt Familien. Ebenso fehlte in der DDR die Aufarbeitung der NS-Zeit sowie ein offener Umgang mit Migration. Die AfD bedient die daraus resultierenden Ängste und Ressentiments und trifft offenbar einen Nerv.
Zu den wichtigsten Mahnern und Erinnerern zählen die Zeitzeugen. Viele davon gibt es nicht mehr. Wer kann diese Arbeit ersetzen?
Schuster: Wirklich ersetzen kann man den Einsatz dieser Menschen nicht, das muss man klipp und klar sagen. Was gut ist, ist, dass man rechtzeitig Film- und Tonaufnahmen von Überlebenden gemacht hat. Man muss diese Zeitzeugen erleben, auch mit ihrer ganzen Gestik. Auch Gedenkstätten-Besuche werden künftig noch wichtiger sein. Wenn so ein Besuch in der Schule gut vorbereitet wird, hat er einen hohen pädagogischen Wert.
Kürzlich haben Schüler auf dem Rückweg von Buchenwald antisemitische Lieder angestimmt…
Schuster: Dann ist in der gesamten Bildung etwas schiefgelaufen. Auch Lehrer sind Menschen: Manche behandeln das Thema Holocaust mit viel Empathie, andere haken den Lehrplan ab. Und wenn wir mit Björn Höcke einen Geschichtslehrer haben, der eine Führungsrolle bei der AfD hat, müssen wir fragen: Ist das ein Einzelfall? Ich fürchte nicht.
Erkennen Sie bei jungen Menschen eine zunehmende Distanz zu den deutschen Verbrechen an den Juden?
Schuster: Der Holocaust wird für viele so etwas wie die Französische Revolution: Er steht in den Schulbüchern. Für einen jungen Menschen sind 75 Jahre eine Ewigkeit. Es bedarf einer gewissen pädagogischen Kunst, Schüler für das Thema zu interessieren. Was man aber auch sagen muss: Mit dem Erinnern hat man sich auch früher schwergetan, der Holocaust war lange Zeit ein Tabuthema. Das kenne ich aus meiner Schulzeit: Wenn der Erste Weltkrieg durch war, war Sommer und wir bekamen hitzefrei – und dann war das Schuljahr zu Ende. Diese Lehrergeneration hatte den Zweiten Weltkrieg vielfach noch miterlebt – manche hatten sogar mitgewirkt. Die wollten von ihren Schülern keine unbequemen Fragen hören.
Sie hatten kürzlich kritisiert, dass das Judenbild in vielen Schulbüchern problematisch sei. Was meinen Sie damit?
Schuster: Die Darstellung ist häufig klischeehaft oder folkloristisch. Dem versuchen wir gemeinsam mit den Schulbuch-Verlagen entgegenzuwirken. Daneben geht es mir darum, dass man jüdisches Leben nicht nur mit der Shoah in Verbindung bringt. Jüdisches Leben in Deutschland ist viel, viel älter: Im Jahr 321 gab es die erste Erwähnung jüdischen Lebens in Köln. Natürlich gab es Brüche in der Geschichte, aber es war eben phasenweise auch ganz selbstverständlich. Das fehlt mir: dass das Judentum etwas ist, das ganz selbstverständlich zu Deutschland gehört.
Dr. Josef Schuster, 1954 in Haifa (Israel) geboren, kam als Zweijähriger nach Würzburg, wo er heute noch lebt. Der Internist ist seit November 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Lesen Sie dazu auch: Zwei Juden aus der Region erzählen: Wir leben auf gepackten Koffern
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.