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Zeitgeschichte: Ein Lexikon des Grauens: Der "Blutige Sommer 1945"

Zeitgeschichte

Ein Lexikon des Grauens: Der "Blutige Sommer 1945"

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    Prag im Mai 1945: Deutsche, die ihr ganzes Leben in der Stadt gelebt hatten, wurden vertrieben und mit Hakenkreuzen „markiert“.
    Prag im Mai 1945: Deutsche, die ihr ganzes Leben in der Stadt gelebt hatten, wurden vertrieben und mit Hakenkreuzen „markiert“. Foto: Imago Images

    Wenn jemals der Titel eines Buches gehalten hat, was er verspricht, dann ist es "Blutiger Sommer 1945". Der Band des Historikers Jiří Padevět über "Nachkriegsgewalt in den böhmischen Ländern" – so lautet der Untertitel – ist in seiner nüchternen, ja lexikalischen Anmutung nur schwer zu ertragen. Doch so grausam die Schilderungen der Verbrechen nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 sind, sie geben den Opfern einen Namen.

    Getötet und vergewaltigt: Furor des Hasses in der Nachkriegszeit

    Getötet, vergewaltigt, misshandelt wurden in den Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur Nazi-Funktionäre, SS-Mitglieder oder Soldaten der Wehrmacht, sondern auch Angehörige der deutschstämmigen Zivilbevölkerung. Zudem waren Tschechen, die verdächtigt wurden, mit den Deutschen eng zusammengearbeitet zu haben, brutaler Gewalt ausgesetzt. Durch den Furor und den Hass der Täter kam es bei der Jagd nach Nazis oder deren Sympathisanten immer wieder zu Verwechslungen – Unbeteiligte wurden gefoltert oder gar ermordet.

    Vielleicht ist es ein Vorteil, dass mit Padevět ein tschechischer Historiker dieses Buch geschrieben hat, das im Jahr 2016 in Tschechien veröffentlicht wurde und seit Mitte Dezember 2020 auf Deutsch vorliegt. Der 54-jährige Direktor des Prager Academia-Verlages forscht seit Jahren über die Geschichte der böhmischen Länder zwischen 1938 und 1953. Ebenfalls im Fokus seines wissenschaftlichen Interesses stehen der Holocaust sowie der Massenmord an den Roma.

    Den Autor Jiří Padevět brachte das Buch an seine Grenzen

    Dass ihn die Arbeit an "Blutiger Sommer" an seine Grenzen brachte, räumt er in der Einleitung zu seinem Buch offen ein. Er habe die Ereignisse nur unter "großer Mühe beschreiben" können, weil "wir, die Tschechen, uns hier sehr oft auf der Seite der Täter" befunden hätten. Umso akribischer hat sich Padevět in die Recherche für sein Lexikon des Grauens gestürzt. 40 Mitarbeiter durchforsteten tschechische Archive – herausgekommen ist eine fast erdrückende Faktendichte, geordnet nach den heutigen 14 Gebieten Tschechiens.

    Der Historiker und sein Team haben für 570 Orte Quellen von Gewaltverbrechen gefunden und dokumentiert – mit kleinen Karten, die den Ort des Geschehens lokalisieren. Die Namen der Opfer und Täter werden genannt, wie auch die oft furchtbaren Details. All dies reich bebildert: Vor dem Auge des Betrachters ziehen Ortsansichten, prächtige Kirchen und Plätze, aber auch Fotos von Gefangenenlagern, von Erhängten und Erschossenen vorbei. Padevět geht davon aus, dass er und sein Team längst nicht alle Todesfälle aus dieser Zeit erfassen konnten.

    Das Buch "Blutiger Sommer 1945" von Jiří Padevět ist nun auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich.
    Das Buch "Blutiger Sommer 1945" von Jiří Padevět ist nun auch in einer deutschen Übersetzung erhältlich. Foto: Verlag Tschirner und Kosova

    Wie konnte es zu den Übergriffen während der sogenannten "wilden Vertreibungen" in den Wochen und Monaten nach der deutschen Kapitulation kommen? Ein wenig überraschendes Motiv nennt Padevět an erster Stelle: Rache – gerade in Dörfern oder Städten, in denen deutsche Soldaten vor ihrem Abzug noch Massaker verübten, denen Gefangene, aber auch Männer, Frauen und Kinder aus der ansässigen Bevölkerung zum Opfer fielen.

    Ihrem Hass freien Lauf ließen Soldaten der Roten Armee, Partisanen- und Rebellengruppen, aber auch einzelne Bewaffnete. Padevět belegt, dass "ausgesprochene Sadisten" und Kriminelle die Rechtlosigkeit in diesen Tagen ausnutzten, um ihre Neigungen auszuleben oder sich zu bereichern. Das ist die eine Seite, die andere war die administrativ organisierte "Säuberung", also die systematische Vertreibung von Deutschstämmigen.

    Die Schilderung der Verbrechen sind schwer zu ertragen

    Die protokollartige, unkommentierte Schilderung der Taten verstärkt noch das Gefühl für die kalte Grausamkeit der Taten: "In dem Internierungslager hat man Deutsche misshandelt, geschlagen und an den Beinen an Bäumen aufgehängt. Totgeschlagen (…) wurde der Geschäftsmann Frantisek Osecki. Danach hat man die Leiche durch das Dorf geschleift. Gewalt spielte sich oft vor den Augen der Dorfbewohner ab, einschließlich der Kinder." So lautet ein Eintrag für den Bezirk Kolin in Mittelböhmen.

    In den tschechischen Behörden gab es durchaus Kräfte, die dem Treiben Einhalt gebieten wollten. "Eine ganze Reihe" mutmaßlicher Täter wurde 1945 verhaftet, schreibt Padevět, um allerdings hinzuzufügen, dass ein Großteil der Verdächtigen bis 1948 ohne Prozess in die Freiheit entlassen wurde.

    Für den Autor ist das Werk eine logische, wenn auch für ihn persönlich in der Erarbeitung schmerzhafte Ergänzung seines Werkes "Prag 1939–1945 unter deutscher Besatzung", das die Deutschen als Täter in den Blick nimmt und 2014 mit dem renommierten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet wurde. Ein kleines Manko für den Leser, der nun das Buch über den Blutsommer zur Hand nimmt, ist, dass er über die Vorgeschichte – also die Verbrechen der Deutschen – nur wenig erfährt.

    Im Nachbarland war das Thema über Jahrzehnte ein Tabu

    In Tschechien wurde Padevět für "Blutiger Sommer" auch angefeindet. Von Tschechen begangene Verbrechen waren über Jahrzehnte ein Tabuthema im Nachbarland. Jiří Padevět bezieht klar Stellung, wenn es um Vorgeschichte und Verantwortung geht: "Ja, die Soldaten und Beamten des nazistischen Staates waren für die Entfesselung der Hölle verantwortlich, das allerdings berechtigt niemanden dazu, die Hölle auf Erden fortzusetzen."

    Jiří Padevět: Blutiger Sommer – Nachkriegsgewalt in den böhmischen Ländern; Verlag Tschirner und Kosova, Leipzig 2020, 736 Seiten, 52,20 Euro.

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