Gut drei Monate nach Aufdeckung der Mordserie von Neonazis wollen Staat und Gesellschaft heute Entschlossenheit im Kampf gegen Rechtsextremisten demonstrieren. In einem Staatsakt in Berlin wird an die Opfer der Verbrechen erinnert. Zeitgleich sollen mit bundesweiten Schweigeminuten die zehn Menschen geehrt werden, die zwischen 2000 bis 2006 von Mitgliedern einer Neonazi-Zelle getötet wurden. In Berlin und Hamburg soll der öffentliche Nahverkehr am Mittag für eine Minute ruhen.
Merkel spricht für Wulff
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bekannte sich am Mittwoch bei einer Veranstaltung in Mecklenburg-Vorpommern klar zum Kampf gegen Rechtsextremismus. "Wir haben mit denen, die Rechtsextremisten sind, nichts gemein, da gibt es keine Toleranz", sagte sie. Die Kanzlerin hält bei der Gedenkveranstaltung im Konzerthaus am Gendarmenmarkt die Hauptrede. Ursprünglich war dafür der zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff vorgesehen. Vor den rund 1200 Gästen wollen auch zwei Töchter von Ermordeten sprechen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung, die Gedenkfeier müsse "mehr sein als ein Zeichen der Solidarität und Anteilnahme". Er verlangte "ein klares und demonstratives Bekenntnis zum resoluten Einschreiten gegen Rechts", dem konkrete Taten folgen müssten. "Wir dürfen Antisemitismus und Rassismus keinen Platz mehr gewähren, weder auf politischer noch auf gesellschaftlicher Ebene."
Kritik vom Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde
Die Zwickauer Terrorzelle - Chronologie der Ereignisse
Freitag, 4. November: Am Vormittag überfallen zwei Männer eine Bank im thüringischen Eisenach und fliehen. Während der Fahndung stoßen Polizisten auf zwei Leichen in einem Wohnmobil. Beamte hatten Hinweise erhalten, dass ein Caravan bei dem Überfall eine Rolle gespielt haben könnte.
Samstag, 5. November: Ermittler untersuchen die Schusswaffen, die in dem Wohnmobil gefunden wurden.
Montag, 7. November: Unter den Pistolen im Wohnwagen sind die Dienstwaffen der im April 2007 in Heilbronn getöteten Polizistin Michele Kiesewetter und ihres schwer verletzten Kollegen. Die später identifizierten Männer Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, deren Leichen entdeckt wurden, sollen den Banküberfall begangen haben. Sie sollen zusammen mit einer Frau in einer Wohnung in Zwickau gelebt haben, die wenige Stunden nach dem Banküberfall explodiert war. Nach der Frau, Beate Zschäpe, wird gefahndet.
Dienstag, 8. November: Die bundesweit gesuchte Beate Zschäpe stellt sich der Polizei in Jena. Spekulationen kommen auf, dass die mutmaßlichen Bankräuber eine Verbindung in die Neonazi-Szene gehabt haben könnten. Sie und die verdächtige Frau sollen in Thüringen als rechtsextreme Bombenbauer in Erscheinung getreten sein.
Mittwoch, 9. November: Zschäpe sitzt in U-Haft und schweigt. Nach Aussage von Thüringens Innenminister Jörg Geibert hatten die Männer bis 1998 Verbindungen zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz - danach jedoch nicht mehr. Polizei und Staatsanwaltschaft in Sachsen machen die Frau zunächst nur für die Explosion des Wohnhauses in Zwickau verantwortlich.
Donnerstag, 10. November: In den Trümmern des abgebrannten Hauses in Zwickau werden weitere Schusswaffen gefunden.
Freitag, 11. November: Es ist die spektakuläre Wende in dem Fall: Unter den Waffen ist die Pistole, mit der zwischen 2000 und 2006 neun Kleinunternehmer erschossen wurden - Türken, ein Grieche und Deutsche mit Migrationshintergrund. Außerdem entdecken Fahnder rechtsextreme Propaganda-Videos. Diese beziehen sich auf eine Gruppierung mit dem Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und enthalten Bezüge zur Mordserie. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übernimmt die Ermittlungen.
Sonntag, 13. November: Die Bundesanwaltschaft geht erstmals ausdrücklich von Rechtsterrorismus aus. Der Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Zschäpe wegen des dringenden Tatverdachts «der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung». In Lauenau bei Hannover wird ein mutmaßlicher Komplize festgenommen. Holger G. soll dem Neonazi-Trio 2007 seinen Führerschein und vor etwa vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt haben. Die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall ist unklar. Politiker fragen, warum die Rechtsextremen, die unter Beobachtung standen und schon 1998 in Jena als Bombenbauer auffielen, so lange unbehelligt blieben.
Montag, 14. November: Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger sagt, die Strukturen des Verfassungsschutzes sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Ihre Frage: «Was mich wirklich umtreibt, ist: Gibt es ein fester gefügtes rechtsextremistisches Netzwerk in Deutschland als bisher angenommen wurde?».
Donnerstag, 17. November: Der hessische Verfassungsschutz dementiert einen Bericht, ein 2006 suspendierter Mitarbeiter habe einen V-Mann beim rechtsextremen Thüringer Heimatschutz geführt. Der Verfassungsschützer war 2006 in einem Internetcafé in Kassel gewesen, kurz bevor dort die tödlichen Schüsse auf den türkischstämmigen Betreiber fielen.
Freitag, 18. November: Die Terrorzelle ist möglicherweise größer als bisher bekannt. Ermittler haben zwei weitere Personen im Visier. Sie sollen Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe unterstützt haben. Nach mehreren Ermittlungspannen in der Vergangenheit wollen Bund und Länder mit besseren Strukturen auf den über Jahre unentdeckten rechtsextremistischen Terror reagieren.
Dienstag, 29. November: Fahnder nehmen den früheren NPD-Funktionär Ralf W. fest. Er soll ein weiterer mutmaßlicher Unterstützer der terroristischen Vereinigung «Nationalistischer Untergrund» (NSU) sein.
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, äußerte sich skeptisch zu der Gedenkfeier. Was Politiker Anfang der 90er Jahre nach den Morden in Mölln und Solingen gesagt hätten, könne man "heute wortwörtlich übernehmen, da hat sich nichts verändert", sagte er dem Neuen Deutschland. "Es ist wichtig, dass man Rassismus verurteilt, aber das reicht nicht aus." Er vermisse eine klare Strategie der Bundesregierung gegen den gesellschaftlichen Rassismus.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, sagte: "Wir müssen ein sichtbares Zeichen gegen Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus setzen." Die Rückmeldungen von Betrieben zu der von Gewerkschaften und Arbeitgebern organisierten Schweigeminute seien überwältigend. "Ich wünsche mir, dass sich viele Menschen beteiligen und unser Land eine Minute innehält." Viele Betriebe und der Zusammenhalt vieler Belegschaften seien positive Beispiele für erfolgreiche Integration, Respekt und Toleranz.
Politiker fordern lückenlose Aufklärung der Verbrechen
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnte davor, nach der Gedenkfeier zur politischen Tagesordnung überzugehen. "Die Fehler der Vergangenheit müssen schonungslos aufgearbeitet werden. Die Struktur der Sicherheitsbehörden steht auf dem Prüfstand" sagte sie der Zeitung Die Welt. "Nie wieder darf eine Gruppe von Rechtsextremisten jahrelang aus dem Blickfeld der Sicherheitsbehörden verschwinden."
Auch SPD-Vizechefin Aydan Özoguz mahnte eine schonungslose Aufklärung der Taten an. "Die Angehörigen der Opfer können vermutlich erst dann zur Ruhe kommen, wenn die Taten umfassend aufgeklärt sind", sagte sie der Rheinischen Post. Zur Gedenkfeier sagte sie: "Es ist gut, dass wir mit dieser Gedenkveranstaltung ein deutliches Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen. Das sind wir den Opfern schuldig."
Der rechtsextremen Mordserie fielen 10 Menschen zum Opfer
Opfer der Mordserie in verschiedenen deutschen Großstädten waren acht türkischstämmige und ein griechischer Kleinunternehmer sowie eine deutsche Polizeibeamtin. Zugeschrieben werden die Verbrechen drei mutmaßlichen Rechtsterroristen.
Die Opfer-Beauftragte der Bundesregierung, Barbara John, fordert von den Ermittlungsbehörden eine ständige Information der Angehörigen. "Für alle Angehörigen der Opfer ist es wichtig, von den Behörden zu erfahren, wie die Ermittlungen verlaufen, wie es damit weitergeht", sagte sie der Welt. Generalbundesanwalt Harald Range müsse hier einen gangbaren Weg finden.
Wie die Zeitung unter Berufung auf Zahlen des Bundesjustizministeriums weiter berichtete, wurden an die Opfer-Familien bisher rund 437 000 Euro ausgezahlt. Von Ende November 2011 bis zum 21. Februar 2012 habe es in 61 Fällen sogenannte Härteleistungen an Eltern, Ehepartner, Kinder und Geschwister der Opfer der Mordserie sowie an die Verletzten der Bombenanschläge von 2001 und 2004 in Köln gegeben. dpa/AZ