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Corona-Pandemie: Wie umgehen mit Corona? Top-Ökonom warnt: Nicht die Produktion schließen

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    Momentan ist alles zu. Aber muss das so bleiben oder wie sieht eine langfristige Corona-Strategie aus?
    Momentan ist alles zu. Aber muss das so bleiben oder wie sieht eine langfristige Corona-Strategie aus? Foto: Arne Dedert, dpa

    In der Corona-Krise mischt sich der Staat in Lebensbereiche ein, in denen er sonst nichts zu suchen hat: Ob zwei oder drei Menschen zusammen auf einer Parkbank sitzen, die Frage, wie viele Verwandte zusammen Weihnachten feiern, ob wir verreisen oder zuhause bleiben. All das geht die Behörden in normalen Zeiten nichts an. Doch seit einem Jahr schränkt die Regierung die Freiheitsrechte ihrer Bürger massiv ein. Das Ziel ist, die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen.

    Dafür aber müssen die Bürger die Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen nachvollziehen können. Doch die Ratschläge und Meinungen von Experten, die auf die Politik einprasseln, sind nicht nur vielstimmig, sondern bisweilen auch widerstrebend. Schulen auf - Schulen zu. Wirtschaft runterfahren - Wirtschaft wieder öffnen. Virologen argumentieren anders als Ökonomen, Schulexperten anders als Statistiker. Was herauskommt ist oft ein politischer Kompromiss.

    Um den wird es auch gehen, wenn sich der Blick langsam auf eine längerfristige Strategie im Kampf gegen Corona richtet. Bei der nächsten Sitzung der Ministerpräsidenten soll es um Perspektiven gehen. Doch wie könnten die aussehen? Wie müssen wir die kommenden Wochen und Monate gestalten, um die Krise möglichst gut bewältigen zu können? Sieben Experten blicken auf diese Herausforderung.

    Ethikerin Christiane Woopen: Technologie statt Lockdown und viel mehr Tests für freies Leben

    „Im Moment werden 100 Prozent der Bevölkerung enorme Eingriffe in ihre Grundrechte zugemutet, damit weniger als derzeit ein Prozent andere nicht anstecken. Das ist angesichts der wohl deutlich höheren Infektiosität des mutierten Virus aus England richtig, aber ein Lockdown kann keine Dauerlösung sein, wenn mit vorhandenen Technologien ein freies Leben ermöglicht werden könnte. Diese Technologien würden zudem nachhaltig zur Vermeidung eines dritten Lockdowns beitragen.

    Grundrechte können in einer epidemischen Notlage nationaler Tragweite eingeschränkt werden, wenn sie mit anderen hochrangigen Gütern wie Gesundheit und Leben konfligieren. Aber Freiheitseinschränkungen müssen befristet sowie verständlich kommuniziert und gut begründet werden. Die Politik sollte alles dafür tun, sie der Gesellschaft möglichst kurz aufzubürden. . Es wird angesichts etlicher Unwägbarkeiten zudem wohl nicht ausreichen, bis zur wiederhergestellten Infektionskettennachverfolgung durch die Gesundheitsämter im Lockdown auszuharren und auf die wärmere Jahreszeit sowie auf die Herdenimmunität nach ausreichender Impfung der Bevölkerung zu warten. Das kann dramatisch schiefgehen.

    Stattdessen wäre es möglich, eine erhebliche Anzahl an Bürgerinnen und Bürgern innerhalb weniger Wochen zu testen. Dies könnte mit Schnelltests etwa in leerstehenden Impfzentren, Hotels, Restaurants, Messehallen und in Fabriken sowie Unternehmen noch während des jetzigen Lockdowns erfolgen. Infektionsketten könnten frühzeitig abgebrochen werden und die Inzidenz würde schneller sinken.

    Um den Erfolg zu sichern und nach einer schrittweisen Aufhebung des Lockdown eine niedrige Inzidenz zu bewahren oder sie gar Richtung 0 zu senken, könnte man eine flächendeckende Teststrategie etablieren, einschließlich täglich selbst anwendbarer Schnelltests. In größeren Unternehmen und in Bildungseinrichtungen – perspektivisch sogar bevölkerungsweit - könnte man zudem mit datenschutzkonformer Technologie nach und nach eine tagesgleiche Infektionskettennachverfolgung etablieren und die Gesundheitsämter entlasten. Die technologischen Systeme dafür gibt es.

    All das erfordert das Mitmachen der Bevölkerung – aber wer ist nicht froh einen Beitrag dazu leisten zu können, das Virus los zu werden ohne zu Hause zu bleiben und Kontakte vermeiden zu müssen?

    Ökonom Clemens Fuest: Die Industrie nicht stilllegen - das Homeoffice stärken

    „In einer notwendigen, langfristigen Strategie sollten wir vor allem den Lockdown so gestalten, dass die Reproduktionszahl deutlich unter eins gesenkt wird, die Neuinfektionszahlen also fallen. Sonst machen wir keine Fortschritte. Und das ist nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch wirtschaftlich schädlich.

    Es sind sicherlich Fehler gemacht worden, sowohl bei der Lockdown-Politik als auch bei der Versorgung mit Impfstoffen. Man muss aber sehen, dass die Politik unter großer Unsicherheit handelt und auch von Experten höchst unterschiedliche und teils widersprüchliche Empfehlungen erhält. Schuldzuweisungen führen hier aber nicht weiter, wir sollten uns darauf konzentrieren, jetzt richtig zu handeln.

    Grundsätzlich sollte man in einem zweiten harten Lockdown, so er notwendig werden sollte, vermeiden, Produktion stillzulegen, bei der die Wertschöpfung hoch und das Infektionsrisiko niedrig ist. Wir sollten uns darauf konzentrieren, Homeoffice und mobiles Arbeiten auszubauen. Nach Schätzungen des Ifo-Instituts ist Homeoffice bei mehr als 50 Prozent der Beschäftigten prinzipiell möglich, dieses Potenzial haben wir noch nicht ausgeschöpft. Natürlich muss auch der Öffentliche Dienst hier seinen Beitrag leisten. Nicht vergessen dürfen wir die Schulen. Auch hier brauchen wir mehr Anstrengungen, den Fernunterricht schnell zu verbessern.

    Perspektivisch kann man sagen: Bislang hat Deutschland auch die zweite Infektionswelle wirtschaftlich recht gut überstanden, vor allem deshalb, weil der Sektor des produzierenden Gewerbes weiterhin arbeitet. Da die ansteckendere Virusvariante auch in Deutschland angekommen ist, sind mehr Schutzvorkehrungen unumgänglich. Für die Wirtschaft wird es entscheidend sein, eine Stilllegung von Industrieunternehmen möglichst zu vermeiden.“

    Politikberater Leonard Novy: Politik muss eine klare Perspektive vermitteln

    Leonard Novy
    Leonard Novy Foto: Nin Solis

    „Ein gewisses Maß an Kakophonie lässt sich in einer solchen Lage, in einem föderalen Staat sicher – und auch nachvollziehbar – nicht vermeiden. Wenig vorteilhaft ist kommunikativ das Ritual der Ministerpräsidentenkonferenzen. Sie sind total intransparent, obwohl manche Teilnehmer scheinbar vor allem damit beschäftigt sind, in Echtzeit Wasserstandsmeldungen an die Bild durchzustecken. Die Gefahr besteht darin, dass sich die Menschen immer mehr als ohnmächtige Empfänger von immer neuen, immer härteren Verordnungen begreifen, die aus einer exekutiven Black Box zu kommen scheinen, oft alles andere als konsistent, geschweige denn gerecht erscheinen – und bei nächster Gelegenheit von einzelnen Ländern unterlaufen werden. Das führt zu Unverständnis, Frustration und Disziplinlosigkeit. So geht es nicht.

    Chronologie der Corona-Pandemie in Deutschland

    Im Januar 2020 ist die erste Corona-Infektion in Deutschland bekannt geworden. Ein Rückblick:

    27. Januar: Erste bestätigte Infektion in Deutschland. Zwei Wochen später ist der Mann aus Bayern wieder gesund.

    25./26. Februar: Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen melden erste nachgewiesene Fälle. Weitere Bundesländer folgen, am 10. März hat Sachsen-Anhalt als letztes Land seinen ersten Fall.

    9. März: In NRW gibt es die ersten Todesfälle innerhalb Deutschlands. Die Zahl der Infektionen steigt bundesweit auf mehr als 1000.

    12./13. März: Immer mehr Theater und Konzerthäuser stellen den Spielbetrieb ein. Die Fußball-Bundesliga pausiert.

    16. März: An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz gibt es Kontrollen und Einreiseverbote. In den meisten Bundesländern sind Schulen und Kitas geschlossen.

    17. März: Mehrere Konzerne kündigen an, ihre Fabriken vorübergehend zu schließen.

    22. März: Verbot von Ansammlungen von mehr als zwei Menschen. Ausgenommen sind Angehörige, die im eigenen Haushalt leben. Cafés, Kneipen, Restaurants, aber auch Friseure zum Beispiel schließen.

    15. April: Auf eine schrittweise Aufnahme des Schulbetriebs ab 4. Mai verständigen sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Länderchefs.

    20. April: Geschäfte unter 800 Quadratmetern Fläche dürfen wieder öffnen. Als erstes Bundesland führt Sachsen die Maskenpflicht für ÖPNV und Einzelhandel ein. Alle anderen ziehen nach.

    22. April: Für Firmen, Arbeitnehmer und Gastronomie werden milliardenschwere Hilfen beschlossen.

    6. Mai: Die Länder bekommen weitgehende Verantwortung für die Lockerung von Beschränkungen - etwa für Hotels, Gastronomie, Fahrschulen, Schwimmbäder und Fitnessstudios.

    16. Mai: Sachsen-Anhalt registriert als erstes Bundesland seit Ausbruch der Pandemie keine Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag. Die Fußball-Bundesliga legt wieder los - ohne Fans in den Stadien.

    16. Juni: Im Kampf gegen das Virus geht eine staatliche Warn-App an den Start. Sie soll dabei helfen, Infektionen nachzuverfolgen. 

    29. August: Etwa 40.000 Menschen protestieren in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen. Demonstranten durchbrechen die Absperrung vor dem Reichstag und stürmen auf die Treppe.

    30. September: Angesichts wieder steigender Infektionszahlen fordert die Kanzlerin zum Durchhalten auf. "Wir riskieren gerade alles, was wir in den letzten Monaten erreicht haben", sagt Merkel im Bundestag.

    7./8. Oktober: Die Bundesländer beschließen ein Beherbergungsverbot für Urlauber aus inländischen Risikogebieten. 

    22. Oktober: Die Zahl der Neuinfektionen binnen eines Tages hat erstmals den Wert von 10.000 überschritten. Das Robert Koch-Institut (RKI) macht vor allem private Treffen dafür verantwortlich.

    2. November: Ein Teil-Lockdown mit Einschränkungen bei Kontakten und Freizeitaktivitäten soll die zweite Infektionswelle brechen.

    9. November: Als erste westliche Hersteller veröffentlichen Biontech und der US-Pharmakonzern Pfizer vielversprechende Ergebnisse einer für die Zulassung ihres Corona-Impfstoffs entscheidenden Studie.

    18. November: Unter dem Protest Tausender in Berlin machen Bundestag und Bundesrat den Weg für Änderungen im Infektionsschutzgesetz frei.

    25. November: Die Beschränkungen für persönliche Kontakte werden für weitere Wochen verschärft. Darauf verständigen sich Bund und Länder.

    27. November: Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen in Deutschland hat nach RKI-Daten die Millionenmarke überschritten. 

    2. Dezember: Als erstes Land der Welt erteilt Großbritannien dem Impfstoff von Biontech und Pfizer eine Notfallzulassung und startet seine Impfkampagne wenige Tage später. 

    16. Dezember: Der seit November geltende Teil-Lockdown reicht nicht aus. Der Einzelhandel muss mit wenigen Ausnahmen schließen.

    18. Dezember: Die Zahl der binnen eines Tages gemeldeten Infektionen in Deutschland ist erstmals auf mehr als 30.000 gestiegen.

    21. Dezember: Zum Schutz vor einer infektiöseren Virus-Variante dürfen keine Passagierflugzeuge aus Großbritannien mehr in Deutschland landen. Der Corona-Impfstoff von Biontech erhält von Brüssel die bedingte Marktzulassung. Somit können die Impfungen in der EU beginnen. Am 6. Januar wird auch der von Moderna zugelassen.

    24. Dezember: Heiligabend im Zeichen der Pandemie. Familienfeiern sollen klein bleiben, Christmetten wenn überhaupt nur auf Abstand stattfinden. Zudem wird die in Großbritannien aufgetretene Variante des Coronavirus erstmals auch in Deutschland nachgewiesen.

    26. Dezember: Einen Tag vor dem offiziellen Impfstart werden in einem Seniorenzentrum in Sachsen-Anhalt eine 101 Jahre alte Frau und etwa 40 weitere Bewohner geimpft. 

    27. Dezember: In allen Bundesländern beginnen die Impfungen. Zuerst sollen Menschen über 80, Pflegeheimbewohner sowie Pflegekräfte und besonders gefährdetes Krankenhauspersonal immunisiert werden.

    1. Januar 2021: Deutschland kommt vergleichsweise ruhig ins neue Jahr. Der Verkauf von Silvesterfeuerwerk war verboten. 

    14. Januar: Das Statistische Bundesamt schätzt, dass die deutsche Wirtschaftsleistung 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 5,0 Prozent eingebrochen ist.

    15. Januar: Mehr als zwei Millionen Corona-Fälle sind hierzulande bekannt geworden, knapp 45.000 Menschen sind an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Sars-CoV-2-Infektion gestorben.

    19. Januar: Bund und Länder verlängern den Lockdown bis Mitte Februar. Zudem werden die besser schützenden FFP2-Masken oder OP-Masken in Bus und Bahn sowie beim Einkaufen obligatorisch.

    21. Januar: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben in Deutschland bereits ihre erste Corona-Impfung erhalten, etwa 77.000 auch schon die zweite. (dpa)

    Besser ist: Problembewusstsein schaffen, eine klare Perspektive vermitteln und die ergriffenen Maßnahmen erklären. Zu einer langfristig angelegten, kommunikativen Strategie gehört ein klares Bild davon, wo die Reise hingeht, samt Etappenzielen. Zum Beispiel: Bei welcher Inzidenz ist was wieder möglich? Außerdem ganz wichtig: Transparenz und Empathie in der Ansprache. Krisen-Kommunikation ist mehr als das Verkünden von Einzelmaßnahmen.

    Neuseelands Premierministerin hat vorgemacht, wie entschlossene und einfühlsame Kommunikation im digitalen Zeitalter ausschauen kann. Es gilt auch bei uns Wege zu finden, den Menschen das Gefühl von Selbstwirksamkeit, neudeutsch „Agency“, zurückzugeben. Statt von oben „zu“, oder schlimmer noch im TV-Interview „über die Menschen da draußen“ zu sprechen, würde ich als Politiker das Gemeinsame, das Wir, stärker in den Vordergrund rücken.“

    Staatsrechtler Ulrich Battis: Die Gerichte halten sich zurück - die Politik muss entscheiden

    „Ich bin überhaupt nicht der Ansicht des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, dass die Politik zu sehr auf Naturwissenschaftler hört. In der zweiten Welle sind die Gerichte deutlich zurückhaltender, wenn es darum geht, Verordnungen zur Bekämpfung des Coronavirus zu kippen. Die Politik muss derzeit unter extrem unsicheren Bedingungen handeln. Gerade mit Blick auf die britische Mutation des Virus ist es unmöglich, vorauszusagen, wie sich die Pandemie entwickelt. An diesem Punkt muss ich Bundeskanzlerin Angela Merkel Respekt zollen: Sie hat das erkannt und agiert sehr klar und engagiert. So hat man sie noch nie erlebt.

    Die Entscheidungen liegen jetzt eindeutig bei der Politik – nicht bei Medizinern, Virologen oder anderen Experten. Die Justiz ist dazu da, die Einschränkungen zu überprüfen. Das Bundesverfassungsgericht lässt der Politik erkennbar mehr Spielraum als noch im Frühjahr. Ich halte eine Ampel – also die Anordnung oder Rücknahme von Beschränkungen je nach dem Inzidenzwert in einzelnen Städten oder Regionen – für sinnvoll. Liegt jeweils eine stichhaltige wissenschaftliche Begründung vor, wäre das meiner Ansicht nach auch juristisch auf Basis des ja mehrfach novellierten Infektionsschutzgesetzes nicht zu beanstanden. Der große Vorteil: Die klare Transparenz für die Bevölkerung, wann, wo, welche Maßnahmen anstehen. Ohne diese Transparenz leidet das Vertrauen in die Politik.

    Ich neige eher zu der Ansicht, dass es für die meisten Einschränkungen genügt, mit Rechtsverordnungen statt neuen Gesetzen zu arbeiten. Damit ist die Politik schneller und flexibler. Kein gering zu schätzender Vorteil in der gegenwärtigen Lage.“

    Schulforscher Andreas Schleicher: Fördern im Präsenzunterricht - weniger Schulstoff ist mehr

    „Kinder sind von Covid-19 als Krankheit kaum betroffen. Es gibt aber wohl keine Gruppe, die stärker unter den Eindämmungsmaßnahmen zu leiden hatte. Insbesondere Kinder aus sozial schwächerem Umfeld wurden durch Schulschließungen weit zurückgeworfen. Der Präsenzunterricht lässt sich insbesondere in der Grundschule kaum ersetzen, und bei den Alternativen, hybrides Lernen oder Lernen auf Distanz, steht Deutschland erst ganz am Anfang.

    Kurzfristig kommt es darauf an, Verlässlichkeit für Kinder und Eltern zu sichern. Wenn Schulschließungen als letztes Mittel notwendig sind, dann sollten Entscheidungen dazu auf Grundlage vereinbarter und transparenter Kriterien getroffen und umgesetzt werden. Solange Schulen mit begrenzten Kapazitäten arbeiten, müssen die Jüngsten sowie Schüler aus bildungsfernen Schichten Vorrang haben.

    Neue Technologien sind in der Pandemie ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg, sie lassen sich aber nicht von oben verordnen. Hier braucht es leistungsfähige Lernplattformen, sowie ausreichend Freiraum vor Ort und Mut, um von erfolgreichen Schulen zu lernen und eine vernünftige Balance zwischen sinnvoller Nutzung von Daten und Datenschutz zu finden, so wie wir das außerhalb der Schule ja auch jeden Tag tun. Und schließlich ist Lernen nicht allein Transfer von Wissen, sondern in erster Linie ein sozialer Prozess. Gerade benachteiligte Schüler brauchen feste Strukturen und es muss auch in einer Pandemie möglich sein, dass Schüler feste und tägliche Ansprechpartner für das Lernen zu Hause haben, Ansprechpartner, die mit einzelnen Schülern oder kleinen Fördergruppen arbeiten, und die selbstständiges Lernen und die Motivation der Schüler mit Einfühlungsvermögen und in enger Zusammenarbeit mit den Eltern fördern.

    Vieles von dem braucht vor allem Verantwortung, Einsatzbereitschaft, Kreativität und Ressourcen vor Ort. Wo die Verwaltung aber mehr tun kann, ist Prioritäten zu setzen. Bei der Anpassung der Lehrpläne gilt, dass weniger Unterrichtsstoff, der klare inhaltliche Schwerpunkte setzt, meist mehr ist; dass Lehrkräfte Unterstützung bei der Entwicklung, Anpassung und Bereitstellung von Lehrmaterialen benötigen; und dass die wertvolle Zeit des Präsenzunterrichts auch wirklich zum gemeinsamen Lernen und der Förderung sozialer und emotionaler Kompetenz genutzt wird.“

    Physikerin Viola Priesemann: Weniger Corona-Falle bedeuten mehr Freiheit

    „Corona ist ein europäisches Problem. In vielen Ländern um uns herum haben die Länder mit Lockdowns auf die stark gestiegenen Zahlen reagiert. Das Virus respektiert keine Grenzen. Wir brauchen ein gemeinsames europäisches Engagement, um die Fallzahlen zu senken. Jedes eingeschleppte Virus aus dem Ausland oder einer Nachbarregion kann wieder eine neue Infektionskette starten.

    Wir werben deshalb als gemeinsames Ziel, gemeinsam für alle europäischen Länder, eine Sieben-Tage-Inzidenz von rund zehn Fällen pro 100 000 Einwohnern anzustreben. In dem Bereich können Infektionsketten wieder besser nachverfolgt werden.

    Bei niedrigen Fallzahlen lässt sich die Ausbreitung des Virus nachhaltig eindämmen. Hohe Fallzahlen bedeuten nicht mehr Freiheiten, sondern das Gegenteil ist der Fall. Das ist einfache Logik: Es ist um ein Vielfaches leichter, die Fallzahlen unter Kontrolle zu halten, wenn sie niedrig sind, als wenn sie bereits hoch angestiegen sind.

    Das ist wie bei einem Feuer: Einen kleinen Waldbrand bekommt man schnell und gut unter Kontrolle. Aber ist er einmal außer Kontrolle geraten, wird es extrem schwierig, eine Ausbreitung wieder einzudämmen. Für eine langfristige Kontrolle der Pandemie hilft deswegen eine zügige und deutliche Senkung der Fallzahl. Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Die Unterschiede sind enorm: Bei einem R-Wert von 0,7 halbieren sich die Infektionszahlen etwa alle acht Tage. Ein R-Wert von 0,9 bedeutet aber, dass sich die Infektionszahlen nur jeden Monat halbieren. Das bedeutet in der Praxis, dass wir etwa vier Wochen oder vier Monate brauchen, um die Infektionen um den Faktor 10 oder mehr zu senken.

    Je konsequenter wir sämtliche möglichen Maßnahmen gleichzeitig ergreifen, beispielsweise Homeoffice, oder, wo dies nicht möglich ist, Schnelltests an Arbeitsplätzen, desto schneller erreichen wir Lockerungen. Erst bei einer Fallzahl von deutlich unter 50 können die Gesundheitsämter Infektionsketten eindämmen und die Lage stabilisieren. Niedrige Fallzahlen bedeuten mehr Freiheit für jeden Einzelnen.“

    Notärztin Lisa Federle: Es muss deutlich mehr getestet werden

    „Die Maßnahmen, die Bund und Ländern beschlossen haben, kann ich nachvollziehen. Aber ich frage mich: Wo bleibt die Strategie? Es fehlt zu viel Impfstoff, die Impfungen gehen zu langsam. Das bietet noch lange keinen Schutz. Deshalb sollte mehr getestet werden.

    Nicht nur die Bewohner und Mitarbeiter von Alten- und Pflegeheimen sollten regelmäßig auf das Coronavirus untersucht werden, viele andere auch. 90 Prozent der älteren Menschen leben daheim. Sie werden allein gelassen. Genau wie die Menschen, die sich um sie kümmern. Was ist mir der Nachbarin, die einmal in der Woche zum Kaffee kommt, damit eine alte Frau überhaupt noch jemanden sieht? Oder mit dem Studenten, der für seinen Opa einkauft? Was ist mit Kindergärtnerinnen, die eine Notbetreuung aufrechterhalten? Oder mit Verkäuferinnen und Taxifahrern? Sie alle werden nicht getestet und sind lange nicht an der Reihe mit einer Impfung. Wir müssen auch sie schützen. Das geht am besten mit Tests. Sie alle sollten alle zwei Tage kostenlos auf das Virus untersucht werden.

    Wenn Betriebe immer wieder schließen müssen, wenn Eltern immer wieder ausfallen, weil sie ihre Kinder versorgen müssen, dann kostet das den Staat Unsummen. Eine Schnellteststrategie wäre im Vergleich dazu günstig.

    Mit ausreichend Tests gäbe es einen zuverlässigen Überblick über die Infektionszahlen und wer positiv getestet wurde, kommt in Quarantäne und kann niemanden mehr anstecken. So gäbe es langfristig eine bessere Kontrolle über das Infektionsgeschehen, die Zahlen würden sinken. Man wüsste, wo es gefährlich ist und wo nicht und in welchen Bereichen langsam gelockert werden kann. Deshalb ist Lockdown der beste Zeitpunkt, um mit der Teststrategie zu beginnen.“

    Alle Gespräche wurden protokolliert.

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