Louis Dorvilier ist ein Mann mit einer klaren Haltung. "In unserem Land müsste es keinen Hunger geben", sagt er. Dorvilier sitzt in Goma, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Er ist Landesdirektor der Welthungerhilfe und weiß um die Besonderheiten seiner Heimat. Enorme Rohstoffvorkommen könnten der Region einen zumindest bescheidenen Wohlstand bescheren. Kobalt, Kupfer, Diamanten, aber auch Kaffee und Kakao sind die Schätze des afrikanischen Staates.
Direktor der Welthungerhilfe: "Der Hunger ist vom Menschen gemacht"
Trotzdem muss Louis Dorvilier auch in diesem Jahr wieder eine schlechte Botschaft überbringen: Die Menschen im Land leiden an Hunger. 72 Prozent der Bevölkerung gelten als arm, es gibt kaum Zugang zu sauberem Wasser. Wie kann das sein, in einem Staat, der doch ein wirtschaftlicher Leuchtturm sein könnte inmitten eines Kontinents, dessen Aussichten mehr als nur trüb sind? "Der Hunger ist von Menschen gemacht", sagt Dorvilier.
Und das nicht nur in der DR Kongo. Immer mehr Staaten machen massive Rückschritte bei der Bekämpfung von Armut – und zwar so stark, dass inzwischen klar ist, dass das von den Vereinten Nationen ausgerufene Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger in der Welt besiegt zu haben, kaum mehr zu erreichen ist. 14 Länder weisen heute höhere Hungerwerte auf als noch im Jahr 2012, wie der Welthungerindex der Welthungerhilfe ausweist. Ende 2019 litten fast 690 Millionen Menschen unter chronischem Hunger, weitere 135 Millionen Menschen waren von einer akuten Ernährungskrise betroffen. Doch was sind die Gründe für die massiven Rückschritte?
1. Gewalt
Die Demokratische Republik Kongo ist nur ein Beispiel: Seit Jahren versinkt das Land in Gewalt, mehr als 100 bewaffnete Gruppen sorgen dafür, dass selbst kleine Fortschritte zunichte gemacht werden, autoritäre Herrscher knechten ihr eigenes Volk anstatt für einen funktionierenden Staat zu sorgen.
Kämpfe sorgen dafür, dass Menschen ihr Land verlassen müssen, dass Felder nicht bestellt werden, dass Kinder nicht zur Schule gehen können. Somalia, Südsudan, Jemen, Syrien – überall dort, wo Gewalt herrscht, verschärfen sich auch die Hunger-Probleme. Die von Kämpfen zahlenmäßig am stärksten betroffene Weltregion war 2019 Afrika mit zehn Kriegen und bewaffneten Konflikten. Es folgten der Vordere und Mittlere Orient sowie Asien mit acht beziehungsweise sieben kriegerischen Konflikten. Das spiegelt sich auch in der Statistik der Welthungerhilfe wider: Am schlimmsten ist die Situation nach wie vor in Afrika südlich der Sahara und in Südasien.
Dass es durchaus möglich ist, etwas gegen Armut und Unterernährung zu unternehmen, zeigt das Beispiel Sierra Leone. Zwar gilt auch in dem Land in Westafrika die Lage noch als ernst – doch es gibt immerhin erste Fortschritte. Einer der wichtigsten Faktoren dabei: Der Bürgerkrieg – einer der gewalttätigsten Konflikte Afrikas – wurde beendet, staatliche Strukturen werden wieder aufgebaut. Wenn auch langsam.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich in Nepal machen. Auch dieses Land erlebt eine Phase zumindest relativer Stabilität – die Situation für die Menschen verbessert sich schrittweise. Die landwirtschaftliche Produktivität steigert sich, der Zugang zu medizinischer Betreuung wird leichter. Der Konfliktforscher Paul Collier hat einmal ausgerechnet, dass sich das Wirtschaftswachstum eines Staates mit jedem Jahr, in dem es sich in einem gewaltsamen Konflikt befindet, um im Schnitt 2,3 Prozent reduziert und es 17 Jahre dauert, bis dieser Verlust ausgeglichen ist.
2. Klimawandel
„Schon vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie war die Hungersituation insbesondere in Afrika südlich der Sahara und Südasien alarmierend“, sagt Marlehn Thieme, Präsidentin der Welthungerhilfe. Die Menschen würden unter einer Vielzahl von Krisen leiden, ausgelöst unter anderem durch Dürren, Überschwemmungen oder Heuschreckenplagen.
Immer häufiger kommt es zu extremen Wetterereignissen, die sich auf den Klimawandel zurückführen lassen und die Ernten vernichten, Straßen zerstören und Häuser unbewohnbar machen. „Unser Mitarbeiter in Äthiopien sagt: Es gibt keine Erholung mehr zwischen den Katastrophen“, berichtet Thieme von der Welthungerhilfe. Die Krisen überlagern sich. Für die reichen Industriestaaten bedeutet das: Klimaschutz ist Menschenschutz. Wer regional einkauft, seinen Fleischkonsum reduziert oder seinen CO2-Ausstoß verringert, leistet einen Beitrag zur Entwicklungshilfe.
3. Corona
„Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger“, sagt Marlehn Thieme. Die Folgen der Pandemie machen Erfolge in den Entwicklungsländern innerhalb kürzester Zeit zunichte. Millionen weitere Menschen werden in den Hunger getrieben – durch den Lockdown bleibt vielen Betroffenen der Zugang zu Arbeit verwehrt, der Tourismus ist eingebrochen, Flüchtlinge schicken weniger Geld an die Verwandten in der Heimat. Schulen wurden geschlossen, das heißt für viele Kinder, dass das Mittagessen ausfällt. „Der Wirtschaftseinbruch könnte die Zahl der Kinder, die in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen an Auszehrung leiden, um 6,7 Millionen anwachsen lassen“, schreibt die Welthungerhilfe in ihrem Bericht.
In Südafrika etwa lag die Arbeitslosenquote zum Jahresbeginn bei 30,1 Prozent, und das war vor dem Corona-Lockdown. Nun wird sie auf über 50 Prozent geschätzt. Hinzu kommt: Zwar sind die Investitionen der reichen Staaten in die Entwicklungshilfe bislang auf gleichbleibendem Niveau, doch das reicht nicht aus, um die Querschläger abzufangen. Und: Viele Länder knüpfen ihre Entwicklungshilfe-Budgets an das eigene BIP – und das sinkt durch die Corona-bedingte Wirtschaftskrise. „An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus“, mahnte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller.
4. Armut
Am schlimmsten ist die Situation nach wie vor in Afrika südlich der Sahara und in Südasien. Das südliche Afrika hat eine Kindersterblichkeitsrate von 7,8 Prozent – es ist die höchste der ganzen Welt. Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie bei 0,3 Prozent. Madagaskar, Tschad und Ost-Timor bilden das traurige Schlusslicht der Welthungerhilfe-Tabelle zum Thema Hunger Armut. Aber auch Länder wie Venezuela rutschen immer tiefer in die Krise. Corona hat Venezuela mit voller Wucht getroffen. Aus der Wirtschaftskrise wurde innerhalb kürzester Zeit eine Hungerkrise. In anderen Staaten fehlt Bauern das Geld für gutes Saatgut und Maschinen. Wo Kinder harte Arbeit verrichten müssen, um die Familie zu ernähren, können sie nicht mehr in die Schule gehen – und sind gefangen in der Armutsfalle.
Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller fordert angesichts der dramatischen Lage in der Welt neue Milliardenhilfen und radikale Agrarreformen. „Hunger ist und bleibt der größte vermeidbare Skandal. Jeden Tag verhungern immer noch 15.000 Kinder“, sagt der CSU-Politiker unserer Redaktion. „Der Planet hat die Ressourcen, 10 Milliarden Menschen zu ernähren.“ Wie das gehe, sollen zwei Studien zeigen, die heute vorgestellt werden. Deren Kernaussagen: Jährlich sind 14 Milliarden Dollar (11,9 Milliarden Euro) zusätzliche Investitionen und eine „Agrarrevolution“ notwendig, um den Hunger in den nächsten zehn Jahren zu besiegen. „Das ist absolut machbar und darf nicht am politischen Willen scheitern“, betont Müller.