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Wahlkampf: Wahl-Umfragen unsicher: Erleben wir am Abend die große Überraschung?

Wahlkampf

Wahl-Umfragen unsicher: Erleben wir am Abend die große Überraschung?

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    Die Stimmabgabe als feierliches Hochamt der Demokratie? Zumindest ist die Bundestagswahl in diesem Jahr spannend wie lange nicht mehr.
    Die Stimmabgabe als feierliches Hochamt der Demokratie? Zumindest ist die Bundestagswahl in diesem Jahr spannend wie lange nicht mehr. Foto: Tobias Hase, dpa

    Sie sind so etwas wie der politische Energy-Drink unserer Zeit – egal, in welche Richtung sie ausschlagen, das Adrenalin im Parteikörper steigt unweigerlich an. In den Wochen vor der Bundestagswahl haben beinahe täglich neue Umfragen für Spannung gesorgt. Mal schien der Durchmarsch der Grünen sicher, bald darauf sah sich Unions-Kandidat Armin Laschet schon im Kanzleramt, schließlich stieg der Puls bei der SPD, weil Olaf Scholz den Sieg schon in der Tasche glaubt. Wie Fieberkurven durchziehen Umfrageergebnisse den Wahlkampf - und werden doch immer auch von leichten Zweifeln begleitet. Den Brexit sahen sie nicht kommen, ebenso wenig die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.

    Noch zwei Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in diesem Jahr veröffentlichte das Institut Insa eine Umfrage, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD sah - am Ende gewann Rainer Haseloff deutlich. Auch das große Finale zwischen Union und SPD könnte am Wahlsonntag beim Zieldurchlauf für Überraschungen sorgen. Der wichtigste Grund für diese Unsicherheit liegt in einer gesellschaftlichen Entwicklung: Die Parteien werden unwichtiger, die Wählerinnen und Wähler dadurch sprunghafter, Kandidaten rücken immer stärker in den Fokus. Eine ungeschickte Bemerkung, ein Lachen, ein Fettnäpfchen reicht aus, um die Stimmung zu beeinflussen - und aus dem sicher geglaubten Gewinner einen Verlierer zu machen.

    Die Wählerinnen und Wähler ändern schneller ihre Meinung

    „Wir sehen seit geraumer Zeit, dass der Anteil derer, die sich spät entscheiden, von Wahl zu Wahl größer wird. Das hat sicherlich damit zu tun, dass die Bindung der Menschen an die Parteien schwächer geworden ist“, sagt Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie in Allensbach. „In früheren Generationen gab es erhebliche Teile der Bevölkerung, die man nachts um 3 Uhr wecken konnte und die dann wussten, wen sie in drei Monaten wählen.“ Seit Jahrzehnten befragt das renommierte Institut am Bodensee die Menschen nach ihrer politischen Haltung und kann so ein umfassendes Bild der Veränderungen zeichnen. Der Wahlforscher gibt ein Beispiel: „Die Zahl der Menschen, die für die Union erreichbar sind, liegt heute bei etwas mehr als 40 Prozent - und das waren in den 70er Jahren kaum mehr“, erklärt Petersen. „Der Anteil der Wähler, der sagt, ich wähle CDU/CSU und nichts anderes kommt infrage, hat sich in der gleichen Zeit aber etwa halbiert. Ähnliches gilt für die SPD. Das heißt, die Parteien können sich nicht mehr auf einen großen Grundstock von Stammwählern stützen, sondern sie müssen bei jeder Wahl wieder neu überzeugen.“

    Allensbach-Forscher Thomas Petersen.
    Allensbach-Forscher Thomas Petersen. Foto: Allensbach

    Das führt dazu, dass es zu großen Verschiebungen bei den Ergebnissen kommt: Als Willy Brandt 1969 zum Kanzler gewählt wurde, sprachen Beobachter von einer historischen Veränderung - die SPD hatte 3,4 Prozentpunkte gewonnen, die Union 1,5 Prozent verloren. Heute sind die Sprünge ungleich größer: Bei der Wahl 2017 verlor die Union 8,6 Prozent, die SPD 5,2 Prozent. Sollten die Umfragen recht behalten, könnten die Grünen ihr Ergebnis diesmal sogar fast verdoppeln, die Union noch mal 7 Punkte verlieren - was erneut eine große Verschiebung der gesamten Parteienlandschaft bedeutet. Hinzu kommt, dass durch die gestiegene Zahl der Gruppierungen im Bundestag diesmal schon kleine Zuwächse oder Verluste reichen, um das Gesamtergebnis zu verändern. Forsa etwa sieht Union und SPD jeweils bei leicht über 20 Prozent, kleine Schwankungen können also über Wohl und Wehe entscheiden. Ohnehin gilt, dass Umfragen eine Fehlertoleranz von etwa plus/minus drei Prozent haben.

    Umfragen können die politische Meinung beeinflussen

    Wie besonders diese Wahl ist, zeigt auch der ungewöhnlich hohe Anteil an Unentschlossenen. Laut Allensbach-Institut wussten knapp zwei Wochen vor der Bundestagswahl deutlich mehr Wählerinnen und Wähler nicht, wem sie ihre Stimme geben sollten, als das bei vorherigen Wahlen der Fall war. Erst 60 Prozent der zur Teilnahme an der Wahl entschlossenen Wähler wussten zu diesem Zeitpunkt, wen sie unterstützen werden. Vor vier Jahren lag dieser Wert bei immerhin 65 Prozent, im Jahr 2013 sogar bei 76 Prozent. Als wichtigsten Grund für ihre Unentschlossenheit nennen 63 Prozent der Befragten die Spitzenkandidaten, die allesamt nicht überzeugend wirkten. „Es ist nicht einfach abzuschätzen, wie sich die vielen Unentschlossenen diesmal entscheiden werden und wer von ihnen überhaupt zur Wahl mobilisiert werden kann“, sagt der Berliner Wahlforscher Thorsten Faas. Denn eines dürfe man nicht vergessen: Wer unentschlossen ist, kann auch unentschlossen sein, überhaupt zur Wahl zu gehen, kann also auch im Lager der Nichtwähler landen. Und noch eines habe sich in den vergangenen Jahren gezeigt: „Auch Umfragen selbst können Menschen zu einer Änderung ihres Abstimmungsverhaltens animieren. Wenn dann das Ergebnis am Wahlabend ganz anders aussieht, stehen die Demoskopen zu Unrecht in einem schlechten Licht“, sagt Faas.

    Umfragen können also einerseits Anhänger der gerade unterlegenen Partei noch einmal mobilisieren - aber auch dazu führen, dass Unentschlossene sich einfach einem vorhandenen Trend anschließen und ihn so noch einmal verstärken. „Auch die aktuell möglichen Möglichkeiten für Koalitionen oder aktuelle Ergebnisse, ob eine bestimmte Partei die Fünf-Prozent-Hürde überspringt oder nicht, können das Wahlverhalten beeinflussen“, sagt Faas. Tatsächlich zeigt eine aktuelle Studie der Universität Hohenheim: Ein Wähler, eine Wählerin wählt eine präferierte Partei häufig nur dann, wenn diese auch Chancen hat, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen und in den Bundestag einzuziehen. Hinzu kommt ein Effekt, der mit „sozialer Erwünschtheit“ beschrieben wird: Anhängerinnen und Anhänger der AfD scheuen mitunter ein öffentliches Bekenntnis. Hingegen könnte die Zahl der Grünen-Sympathisanten eher überschätzt werden, weil Wählerinnen und Wähler sich zwar gern „grün“ geben, in der Wahlkabine dann aber doch auf Nummer sicher gehen könnten und für die „Großen“, Union und SPD, stimmen.

    Thorsten Faas, Wahlforscher von der Freien Universität Berlin.
    Thorsten Faas, Wahlforscher von der Freien Universität Berlin. Foto: Thorsten Faas

    Ausgerechnet die Union, die sich selbst als letzte Volkspartei mit hoher Bindekraft versteht, blickt in diesem Jahr besonders erwartungsvoll auf die Unentschlossenen. Die Hoffnung ist, dass in diesem Kreis so etwas wie eine Art Reserve verborgen sein könnte, die sich am Wahltag in die Urnen ergießt - denn laut Forsa sind unter den Unentschlossenen im Vergleich zu anderen Parteien überdurchschnittlich viele Ex-CDU/CSU-Wähler. „Für die CDU wird es jetzt wahlentscheidend sein, ob für die Wähler die Hürde eines Kandidaten Armin Laschet so hoch ist, dass sie nicht mehr drüberspringen, oder ob sie die Partei trotz Laschet wählen“, sagt Manfred Güllner, Chef des Umfrageinstituts. „Insofern gibt es noch gewisse Reserven für die Union.“ Diese Gruppe müsse die Union im Endspurt mobilisieren. Leicht wird das nicht. In seinen Umfragen stellt Güllner immer wieder fest, dass keiner der drei Kandidaten die Wählerinnen und Wähler wirklich überzeugen kann. „Auch die Werte von Olaf Scholz sind ja nicht wirklich gut - sie sind nur besser als die von Armin Laschet“, sagt Güllner. Das führe zu einer paradoxen Situation: Das Interesse am Wahlkampf an sich sei sehr hoch, doch gleichzeitig mache sich eine gewisse Lustlosigkeit breit, sich für einen Kandidaten zu entscheiden.

    Das sagt die letzte Allensbach-Umfrage über den Wahlabend

    Das macht es für die Meinungsforscher schwer, über den Tag hinaus zu blicken. „Die Umfrage misst das Meinungsbild zum Zeitpunkt der Erhebung“, sagt der Allensbach-Forscher Thomas Petersen mit Blick auf den Wahlabend. „Die ist, wenn Sie so wollen, wie ein Thermometer. Das sagt mir auch nicht, wie warm es morgen wird.“ Und doch hat sein Institut einen Anspruch: „Wir haben den Anspruch, dass unsere allerletzte Umfrage vor der Wahl eine Prognose ist. Zwei Prozent mehr oder weniger können natürlich immer sein.“ Und genau da ist diesmal der größte Unsicherheitsfaktor: Die letzte Allensbach-Umfrage nämlich sieht die SPD bei 26 Prozent, die Union bei 25 Prozent, die Grünen bei 16 Prozent, die FDP bei 10,5 Prozent, die AfD bei 10 Prozent und die Linke bei 5 Prozent.

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