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Wahlkampf: Plötzlich liegt Olaf Scholz mit der SPD vorne

Wahlkampf

Plötzlich liegt Olaf Scholz mit der SPD vorne

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    SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz präferiert eine Koalition mit den Grünen.
    SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz präferiert eine Koalition mit den Grünen. Foto: Soeren Stache, dpa

    Als der Moderator auf dem Berliner Bebelplatz den „Kraftriegel des Bundestagswahlkampfs“ auf die Bühne bittet, da geht ein kurzes, erstauntes Raunen durch das rund 1500 Köpfe zählende Publikum. Denn Gastgeber der Polit-Show ist SPD-Vize Kevin Kühnert, und der Mann, den er nun mit markigen Worten ankündigt, war vor noch nicht allzu langer Zeit sein erklärter Gegner. Als Juso-Chef warf Kühnert seinen ganzen Einfluss in die Waagschale, um den heute so Gepriesenen als Parteichef zu verhindern. Jetzt aber ruhen alle Hoffnungen der Sozialdemokraten, 16 Jahre nach der Abwahl von Gerhard Schröder wieder einen Bundeskanzler zu stellen, auf eben diesem Olaf Scholz.

    Als er die rot verhangene Bühne vor der grünen Kuppel der Hedwigs-Kathedrale im Zentrum der Hauptstadt betritt applaudiert die Menge herzlich. Für einen Nachmittag im August ist es viel zu kalt, doch Scholz hat das Sakko abgelegt und die oberen Knöpfe seines weißen Hemdes geöffnet. Der SPD-Kanzlerkandidat beginnt seine Rede mit ein paar Sätzen zu Afghanistan, verspricht, sich um die Ausreise weiterer Ortskräfte zu bemühen. Mit einer hämmernden Armbewegung verleiht er seinen Aussagen Nachdruck. Doch wieder einmal zeigt sich: Ein mitreißender Redner ist der kühle Hamburger nicht. Dafür, dass er in den Umfragen in der Wählergunst inzwischen Armin Laschet von der CDU und Annalena Baerbock von den Grünen hinter sich gelassen hat, muss es andere Gründe geben.

    Olaf Scholz: Aus aussichtsloser Position an die Spitze

    Dass Scholz vom scheinbar aussichtslosen dritten Rang – manche warfen die Frage auf, ob er zu den Fernseh-Wettkämpfen der Kanzlerkandidaten überhaupt eingeladen werden sollte – an die Poleposition gerückt ist, hat wenig mit Charisma zu tun. Denn darüber verfügt der 63-Jährige nicht, das weiß er auch. Dafür aber über andere Eigenschaften, und viele davon erinnern an Angela Merkel, die er als Regierungschefin beerben will: Zielstrebigkeit etwa und den unerschütterlichen Glauben an sich selbst. „Es ist schön, wie sich die Umfragen entwickeln. Es ist berührend zu sehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger mir zutrauen, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein“, sagt Scholz auf der Bühne. Es gehe um ein schweres Amt: „Wenn so viele sagen, ,Du kannst das‘, dann ist das ein bewegender Moment auch für mich.“

    Olaf Scholz kommt in Begleitung seiner Personenschützer zum bundesweiten Verdi-Aktionstag am Amazon-Logistikzentrum im Stadtteil Lankwitz.
    Olaf Scholz kommt in Begleitung seiner Personenschützer zum bundesweiten Verdi-Aktionstag am Amazon-Logistikzentrum im Stadtteil Lankwitz. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Mehr Emotionalität gibt es nicht an diesem Nachmittag. Vom Pathos eines Martin Schulz, der die SPD vor vier Jahren in eine dröhnende Niederlage führte, ist nichts zu spüren. Von der Begeisterung, die Schulz im Publikum entfachen konnte, erst recht nicht. Wo bei Schulz minutenlang Jusos frenetisch „Martin, Martin“ skandierten, wird bei Olaf Scholz kurz höflich applaudiert. Alles ein paar Nummern dezenter. Niemand brüllt „Olaf, Olaf“.

    Scholz will lernen aus dem Scheitern von Martin Schulz

    Schulz’ Scheitern und Scholz’ aktueller Höhenflug haben mehr miteinander zu tun, als sich auf den ersten Blick erschließt. Denn die Scholz-Kampagne ist in fast allen Punkten das exakte Gegenteil der pompösen Schulz-Strategie, die auf künstlich entfachte Begeisterung setzte, die sich schnell als Strohfeuer erwies. Dass Scholz sein Publikum mit Gesten zu Sprechchören animieren würde, wie es Schulz tat – undenkbar.

    Am Rande des Bebelplatzes steht einer, der in den erfolglosen Wahlkämpfen von Peer Steinbrück und Martin Schulz an vorderster Front dabei war. Mit reichlich Sarkasmus in der Stimme sagt er: „Es gibt viele Arten, alles falsch zu machen. Und wir haben alle ausprobiert.“ Der Funktionär, der heute nicht mehr in der ersten Reihe steht, fügt an: „Ich hätte nicht mehr geglaubt, dass es für uns überhaupt noch Möglichkeiten gibt, es richtig zu machen. Aber jetzt muss ich sagen, Scholz und seine Leute machen alles richtig.“

    Kanzlerkandidat Olaf Scholz SPD erscheint während der Diskussion der Kandidaten auf einem Bildschirm in einem VIP Zelt.
    Kanzlerkandidat Olaf Scholz SPD erscheint während der Diskussion der Kandidaten auf einem Bildschirm in einem VIP Zelt. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Die Niederlage von Schulz mit 20,5 Prozent, dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten, hat eine Arbeitsgruppe der Partei analysiert. Als Gründe des Scheiterns wurden unter anderem ausgemacht: Eine viel zu späte Kandidatenkür durch den zaudernden Parteichef Sigmar Gabriel, der selbst kniff. Das Fehlen strategischer Planung, ein verloren gegangener Bezug zur Stammwählerschaft und mangelnde Kampagnenfähigkeit im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale.

    Die Analyse der Wahlkampf-Legende

    In einem Gespräch mit unserer Redaktion vor einigen Monaten sagte Frank Stauss, legendärer Wahlkampf-Werber und Mitautor der Analyse, Schulz sei ja zunächst mit großen Sympathien gestartet. „Doch dann ging der Kampagne schnell die Luft aus, weil sie inhaltlich schlecht vorbereitet war.“ Schulz sei anfangs als der große Europapolitiker, später aber zunehmend als der Kumpel von nebenan und Ex-Bürgermeister von Würselen präsentiert worden. „Mit dieser Anbiederung hat er sich letztlich nur verkleinert“, war der Kampagnen-Profi überzeugt.

    Olaf Scholz (SPD): «Ich bin dafür, dass wir unser Steuersystem etwas besser austarieren, indem Leute, die in meiner Einkommenskategorie oder da drüber liegen, etwas mehr zahlen (...).».
    Olaf Scholz (SPD): «Ich bin dafür, dass wir unser Steuersystem etwas besser austarieren, indem Leute, die in meiner Einkommenskategorie oder da drüber liegen, etwas mehr zahlen (...).». Foto: dpa

    Oft landen „schonungslose Analysen“ von Wahlschlappen schnell in der Schublade. Doch diese Studie wird gelesen. Vor allem von Andrea Nahles und Olaf Scholz. Gemeinsam fassen sie den Plan, ihre Partei wieder auf Kurs zu bringen. Es ist Frühjahr 2018, widerstrebend ist die SPD ein weiteres Mal in eine Koalition mit der Union eingetreten. Nahles ist neue Parteichefin, Scholz Bundesfinanzminister und Vizekanzler. Nach dem Schulz-Debakel kann es ja nur aufwärtsgehen, glauben sie. Doch sie täuschen sich gewaltig. Der Absturz geht weiter. Die Verwerfungen innerhalb der

    Der große Verlierer im Kampf um den Parteivorsitz gilt nun als Kanzlerhoffnung der SPD

    Jetzt steht der große Verlierer im Kampf um den Parteivorsitz als Kanzlerhoffnung der SPD in Berlin auf der Bühne. Routiniert arbeitet er ein Thema nach dem anderen ab, von Afghanistan über Corona und Klimakrise bis zur Rentenfrage. Er skizziert das Problem und entwirft eine Lösung, die zwar Geld koste, das aber vorhanden sei. Nicht zuletzt, das lässt er stets durchklingen, weil er als Finanzminister solide gewirtschaftet habe. Reiche, also auch Leute, die so gut verdienten wie er selbst, müssten einen höheren Beitrag leisten, fordert er. Doch wie hat er geschafft, was bibelfeste Parteifreunde „das größte Comeback seit der Rückkehr des Lazarus aus dem Totenreich“ nennen?

    Leute, die ihm nahestehen, sagen, dass Scholz um den Jahreswechsel auf 2020 kurz davor ist, alles hinzuwerfen. Seine politische Laufbahn zu beenden, die als wuschelköpfiger Gymnasiast mit tiefroten Idealen bei den Hamburger Juso beginnt. Die ihn in Schlüsselpositionen in der Partei und herausgehobene öffentliche Ämter bringt: SPD-Generalsekretär, Bundesarbeitsminister, Regierungschef des Stadtstaats

    Nach der Schlappe kehrt Scholz zurück, als wäre nichts gewesen

    Ist jetzt das Ende der Fahnenstange erreicht? Scholz hadert, leidet. Doch als im Januar der Politikbetrieb wieder beginnt, kehrt er ins Finanzministerium zurück, als wäre nichts gewesen. Seinerzeit glaubt wohl niemand mehr an die politische Auferstehung des Olaf Scholz. Der Finanzminister konzentriert sich aufs Regieren.

    In der Partei geben andere den Ton an. Die linke neue Spitze mit Kühnert als Kronprinz. Noch ist der sparsame Finanzminister, der eisern die „Schwarze Null“ verteidigt, ihr Buhmann. Doch langsam, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, beginnt ein Prozess der Verständigung. Den neuen Wortführern dämmert, dass die Spaltung der Partei gestoppt werden muss, wenn sie nicht untergehen will, wie so viele andere europäische sozialdemokratische Volksparteien vor ihr. Die Lage ist ernst, die Umfragewerte sind noch weit unter das Wahlergebnis von Martin Schulz gefallen. Allmählich werden die Rufe nach dem GroKo-Ende leiser und verstummen schließlich ganz. Denn in China ist eine unheimliche Krankheit ausgebrochen, die bald Deutschland erreicht. Jetzt schlägt die Stunde des Olaf Scholz. Er kündigt an, mit der „Bazooka“ gegen die Pandemie-Folgen zu schießen, stellt viele Milliarden an Corona-Hilfen bereit. Seine linken Genossen sind entzückt, seine persönlichen Umfragewerte steigen. Mit ihm, das sieht nun auch ein Kevin Kühnert ein, kann die SPD noch am ehesten wieder auf die Erfolgsspur finden. Früher als die Mitbewerber, bereits im August 2020, präsentieren die Sozialdemokraten ihn als ihren Kanzlerkandidaten. Die Öffentlichkeit reagiert teils belustigt: Bei den Werten der SPD sei das ja überflüssig. Einer, der als Parteichef nicht gewollt wurde, als Spitzenkandidat? Aussichtslos, unken Experten. Tatsächlich bildet diese Konstellation heute eine der wenigen offenen Flanken des Sozialdemokraten. Sein Hauptkonkurrent Armin Laschet (CDU) warnt sinngemäß: Wer den pragmatisch auftretenden Scholz wählt, wählt in Wirklichkeit die strammen Linken Esken und Kühnert, die ein wirtschaftsfeindliches Bündnis mit Grünen und Linkspartei anstreben.

    Kooperation mit der Linken? Nicht ausgeschlossen

    Scholz schließt eine Kooperation mit der Linken auch bei der Kundgebung in Berlin nicht gänzlich aus, lässt aber deutlich größere Sympathien für eine „Ampel“ mit Grünen und FDP durchblicken. Andere Angriffspunkte sind rar. Seine Rolle im Wirecard-Skandal, wo die ihm unterstellte Finanzaufsicht versagte, hat ihm im Wahlkampf bislang wenig geschadet. Auch vom Verdacht, während Scholz’ Amtszeit als Hamburger Bürgermeister sei die feine Warburg-Bank bei ihren Cum-Ex-Schummeleien zulasten der Steuerzahler geschont worden, ist wenig hängen geblieben. Größter Makel seiner Karriere bleiben die Ausschreitungen linker Chaoten beim G20-Gipfel in Hamburg, auf die Scholz als Bürgermeister schlecht vorbereitet war. Doch in der Stunde der Not war es ausgerechnet Angela Merkel, die sich vor ihn stellte, ihn öffentlich verteidigte. Scholz vergisst ihr das nie. Und dass Merkel im Wahlkampf erst spät für ihren Parteifreund Armin Laschet und halbherzig gegen Scholz einschreitet, ist kein Zufall. Die Kanzlerin und ihr Vize verstehen und schätzen sich, ähneln sich bis in die persönliche Lebensgestaltung hinein. Beide leben kinderlos mit ihrem Ehepartner in Etagenwohnungen. Scholz ist seit 23 Jahren mit der brandenburgischen Bildungsministerin Britta Ernst verheiratet. Im Brigitte-Live-Talk macht er ihr eine Liebeserklärung, sie habe ihn zu einem besseren Menschen gemacht. Einer der wenigen Momente, in denen der Jurist Gefühle zeigt. Doch wie wird eine derart spröde wirkende Person zum Wählermagnet?

    In der Heide mit dem Kopf der Scholz-Kampagne

    An einem warmen Abend im Juni sitzt SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil in einem Gartenlokal am Rande der Lüneburger Heide, seiner Heimat. Der 43-Jährige verantwortet nicht nur den SPD-Wahlkampf, er ist für Scholz auch wichtiges Bindeglied in die linkeren, jüngeren und städtischen Parteikreise. Für den Wahlkampf hat er ein digitales Netz geknüpft, das vom neu aufgestellten Kampagnenteam im Willy-Brandt-Haus über die externen Kreativ-Profis bis zu den Wahlkämpfern in den Kommunen reicht. Wegen Corona ist der Haustür-Wahlkampf eingeschränkt, so absolviert Scholz ungezählte Online-Wahlkampfauftritte. Die Strategie, die Klingbeil da vor einem kleinen Kreis von Journalisten umreißt, lautet verkürzt: Die vermeintliche Not, der Mangel des Kandidaten an Glanz und Glamour, soll zur Tugend gedeutet werden. Es werde eine Weile dauern, doch am Ende würden die Leute erkennen, dass Angela Merkel nicht mehr zur Wahl steht und Scholz am besten die Lücke füllen könne, die sie hinterlässt.

    Die Medienleute sind skeptisch. Auch was der Mann neben Klingbeil, der mit seiner bulligen Statur, der Bomberjacke und dem strengen Kurzhaarschnitt wie ein Türsteher wirkt, erzählt, überzeugt nicht auf Anhieb. Rafael Brinkert ist einer der profiliertesten Werber Deutschlands, hat etwa für Zalando („Schrei vor Glück“) und pikanterweise auch die CDU gearbeitet. Scholz als „Nerd“, der über mehr Detailwissen als Ausstrahlung verfüge, werde in diesen aufgewühlten Zeiten viel Vertrauen gewinnen. Das Parteiprogramm sei in allen Bereichen klar durchdefiniert. SPD stehe nunmehr für „Soziale Politik für Dich“ – ja, der Wähler werde nun geduzt, wie bei Ikea. Die Plakate seien mit ihrem hohen Rotanteil und den prägnanten Schwarzweißfotos so gestaltet, dass sie auffallen im Spätsommer, wenn die Bäume und Sträucher grün sind. Dagegen würden die grünlastigen Grünen-Plakate kaum wahrgenommen werden. Sollten die Rezepte für einen Wahlerfolg wirklich so einfach sein?

    Wie frisch gebügelt

    Ein SPD-Spitzenmann räumt Anfang vergangener Woche – die SPD ist gerade in der ersten Umfrage an der Union vorbeigezogen – unumwunden ein, dass er schreien könnte vor Glück über die Fehler der Konkurrenz. In seinem Büro in der Kreuzberger Bundesparteizentrale zählt er die Peinlichkeiten auf, die sich Annalena Baerbock und Armin Laschet in der ersten Wahlkampfphase geleistet haben. Das dauert einige Minuten. Der eigene Kandidat dagegen habe zwar nicht ganz umsonst einst den Spitznamen „Scholzomat“ verpasst bekommen, wegen seiner formelhaft-routinierten Art zu reden – aber diese Maschine funktioniere eben auch verlässlich und fehlerfrei. So früh, sagt er, habe man eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass Scholz die Führung übernimmt. Es passe eben gerade alles zusammen. Am meisten profitiere die Partei gerade von einer Geschlossenheit, die es lange nicht gegeben habe: „Alle stehen hinter Olaf, niemand schießt quer.“

    Auf dem Bebelplatz ist die Kundgebung beendet, der SPD-Kandidat, sein Hemd wirkt noch immer wie frisch gebügelt, winkt mit bübischem Grinsen in die artig applaudierende Menge. Scheint da so etwas auf wie ein Hauch von Genugtuung, dass jetzt Laschet und Baerbock in der undankbaren Verfolgerposition sind? Vor dem Wahlkampf-Endspurt haben sich die Vorzeichen umgekehrt. Die einstigen Favoriten müssen ihm nachlaufen. Er, dem vor Wochen keiner eine reelle Chance zugestanden hätte, kann sich auf das konzentrieren, was er am besten kann: Einfach Olaf Scholz zu sein.

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