Schweben die Grünen im Umfrage-Aufwind mit Annalena Baerbock direkt ins Kanzleramt? Oder folgt dem Höhenflug ein jäher Absturz? Für Matthias Jung, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen, ist die Lage vor dem Urnengang im September historisch einmalig. „Die Amtsinhaberin tritt nicht mehr an. Erstmals gibt es nur neue Kandidaten, keiner hat einen Amtsbonus, die Chancen sind viel gleichmäßiger verteilt“, sagte er unserer Redaktion.
Eine grüne Kandidatin mit Aussichten, Angela Merkel von der CDU nachzufolgen – das sorge in der medialen Öffentlichkeit für den „Hype des Neuen“. So dränge sich der Vergleich mit dem Wirbel vor vier Jahren um den sogenannten „Schulz-Zug“ auf. „Der schnelle Aufstieg des SPD-Kandidaten in den Umfragen und sein tiefer Fall bei der Wahl 2017 zeigen, wie kurzlebig solche Stimmungen sein können“, sagte Jung.
Seit die Kandidaten feststehen steigen Werte die Grünen, die Union fällt
Kaum zwei Wochen ist es her, dass die Grünen verkündet haben, dass sie Annalena Baerbock ins Rennen um das Bundeskanzleramt schicken. Seither klettern die Umfragewerte nach oben. Das Institut Forsa sieht die Grünen aktuell bei 28 Prozent der Wählergunst – satte sechs Prozentpunkte vor der lange führenden Union.
Auch in anderen Umfragen geht es für CDU und CSU, die sich nach hartem Ringen auf Armin Laschet als Spitzenbewerber geeinigt haben, bergab. Die SPD mit Olaf Scholz als Spitzenkandidat fällt immer weiter zurück – auf Werte um die 13 Prozent.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz nur Außenseiter im Rennen
Für Matthias Jung sind die Sozialdemokraten und Scholz „in diesem Rennen nur Außenseiter“. Die Partei stecke seit vielen Jahren in der Dauerkrise, habe sich alle Mühe gegeben, Scholz maximal zu beschädigen, als sie ihn als Parteichef ablehnte. Scholz sei zudem „alles andere als eine charismatische Persönlichkeit“. Ein Pluspunkt sei seine Regierungserfahrung. „Aber das dürfte kaum reichen“, glaubt Jung.
Bisher habe die Union strukturell das höchste Wählerpotenzial gehabt, sagte Jung. Doch ihr Kanzlerkandidat Armin Laschet stehe „wahrlich nicht als strahlender Sieger der Entscheidung um Vorsitz und Kanzlerkandidat da“. Davon könne Baerbock profitieren – obwohl es in Wirklichkeit gar keine richtige Wechselstimmung gebe. Der Chef des Umfrage-Instituts: „Würde Angela Merkel noch einmal antreten, hätte sie beste Chancen. Markus Söder, der den engen Schulterschluss mit Merkel gesucht hat, wäre eher ein Granat für eine besseres Unions-Ergebnis gewesen als Laschet.“
Die Grundstimmung in der Mehrheit der Bevölkerung ist laut Jung „ dass irgendeine Kombination aus schwarz und grün das Richtige wäre“. Die Rahmenbedingungen für die Grünen seien so gut wie nie: „Um 60 Prozent der Wähler können sich heute grundsätzlich vorstellen, ihre Stimme auch mal den Grünen zu geben. Eine Mehrheit der Bevölkerung will mehr Ökologie und Klimaschutz“.
Ob die Grünen ihre guten Umfragewerten bis zur Wahl halten können, vermag auch der Demoskop nicht vorauszusagen. „Die Halbwertszeit für politische Stimmungen ist sehr kurz geworden“, sagte er. Entspanne sich die Corona-Lage, würden die Karten neu gemischt. Jung: „Wenn die ökonomische Situation kritisch wird, könnten die Menschen eher der Union vertrauen, ihr wird die Wirtschaftskompetenz zugeschrieben. Kommt es dagegen zu einem heißen Sommer mit Dürren, dann wird der Klimawandel wieder mehr in die Aufmerksamkeit rücken. Das wäre gut für die Grünen.“
Kandidatin der Grünen: Viele Bürger kennen Annalena Baerbock kaum
Ein Nachteil für Annalena Baerbock ist laut Jung, dass viele Bundesbürgern sie noch kaum kennen würden. Das treffe aber – außerhalb von Nordrhein-Westfalen – auch auf Armin Laschet zu. So werde es in den kommenden Wochen darum gehen, wem die Bürger am ehesten die Kanzler-Rolle zutrauen. Die Bürger würden sich etwa fragen, wer deutsche Interessen besser gegen Putin oder auch gegen Washington durchsetzen kann.
Die Grünen profitieren im Moment Jung zufolge davon, „dass sie in der Opposition unverbindlich bleiben können“. Im Unterschied zu früher verschreckteen sie die bürgerliche Mitte heute aber nicht mehr mit Forderungen wie dem Veggie-Day oder ähnlichem. Im grünen Wahlprogramm würden Zumutungen „moderat präsentiert“. In der Corona-Krise sei der Kurs konstruktiv. Es gebe zudem auch seit längerem keinen Streit untereinander mehr – anders als bei Union und SPD. Das komme an beim bürgerlichen Publikum. Jungs Fazit: „Insofern kochen die Grünen heute auch mit einem früheren Erfolgsrezept der Union“.
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