„Das Thema Afghanistan“, sinnierte CDU-Chef Armin Laschet nach einer Sitzung der Parteispitze, „überlagert im Moment die innenpolitischen Debatten“. In der Tat gab es in Berlin am Montag kein anderes Thema, über das mehr gesprochen wurde. Vor dem Hintergrund der Lage in Kabul meldeten sich zahlreiche Politikerinnen und Politiker zu Wort. Darunter viele, die sich in den letzten Monaten und Jahren zum Afghanistan-Einsatz gar nicht erklärt hatten und die auch sonst bisher nicht durch außenpolitische Expertise auffällig geworden wären. Neben dem Unions-Kanzlerkandidaten Laschet entdeckten Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz das Thema für sich. Dass es zu einem Schwerpunkt im Bundestagswahlkampf werden wird, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
„Unter Strich kann ich mir nicht vorstellen, dass das Thema Afghanistan wirklich einen entscheidenden Einfluss auf die Bundestagwahl hat“, sagte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, unserer Redaktion. Aktuelle Zahlen liegen wegen der Kürze der Zeit noch nicht vor, aber Güllner hat schon viele Wahlen begleitet und baut auf Erfahrungswerte: „Wir wissen aus der Vergangenheit, dass die Außenpolitik bei vergangenen Bundestagswahlen als Thema so gut wie nie eine Rolle gespielt hat.“
Viele wissen nichts über den Afghanistan-Einsatz
Für diese Einschätzung spricht eine Studie des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften. Demnach gehört der Resolute Support-Einsatz in Afghanistan neben dem KFOR-Einsatz im Kosovo zwar zu den noch bekanntesten Bundeswehrmissionen im Ausland. Aber nur zwei Prozent der befragten Deutschen haben sich intensiv mit dem Einsatz beschäftigt. 23 Prozent haben „davon gehört bzw. gelesen und kennen einige Fakten und Zusammenhänge“. Satte 45 Prozent haben vom Einsatz gehört, wissen aber nichts Konkretes. Und 29 Prozent der Deutschen wissen gar nichts über den Afghanistan-Einsatz.
Güllner nennt zwei Ausnahmen, in denen die Außenpolitik im Wahlkampf eine Rolle spielte. Eine sei 1972 die Ostpolitik gewesen. „Das wurde aber in der Bevölkerung nicht als außenpolitisches Thema wahrgenommen, sondern eher als Auseinandersetzung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt von der SPD und dem CDU/CSU-Oppositionsführer Rainer Barzel“, erklärte der Forsa-Chef. Im Jahr 2002 habe das Thema Irak eine Rolle im Wahlkampf gespielt. „Da war es aber so, dass eine konkrete Bedrohung gesehen wurde. Die Wählerinnen und Wähler hatten Sorge, dass Saddam Hussein Terrorakte anordnet, Raketen auf Europa abfeuert und das Wasser vergiftet.“ Der damalige Kanzler Gerhard Schröder habe „dadurch gepunktet, dass er mit seinem Nein zum Irak-Krieg Hoffnungen weckte, dass man in Deutschland von Aktionen verschont bleibt“, meinte Güllner.
Afghanistan gebe den Menschen in Deutschland kein Gefühl der direkten Bedrohnung
Beim Thema Afghanistan gebe es dieses Gefühl der direkten Bedrohung nicht, sagte der Meinungsforscher. „Was vielleicht Auswirkungen haben könnte, wäre die Frage, ob eines der zuständigen Ministerien versagt hat.“ Aber selbst wenn – da das Auswärtige Amt vom SPD-Politiker Heiko Maas und das Verteidigungsministerium von der CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer geführt werden, würde sich das am Ende mit Blick auf das Wählerverhalten praktisch neutralisieren.
Politiker der Regierungsparteien hielten sich am Montag denn auch mit gegenseitigen Vorwürfen zurück. Zunächst gelte das Augenmerk der Evakuierung aus Kabul, hieß es übereinstimmend bei Union und SPD. Die Opposition ging zwar härter ran. „Das Versagen der Bundesregierung am Hindukusch hat die vermeintliche außenpolitische Domäne von Kanzlerin Merkel in einen Scherbenhaufen zerdeppert. Der Machtverfall ist mit Händen greifbar“, wetterte etwa FDP-Vizefraktionschef Michael Theurer. Doch das allein schiebt Afghanistan nicht auf die Liste der wichtigen Wahlkampfthemen.
Kommen die Flüchtlinge nach Deutschland?
Das könnte allenfalls dann passieren, wenn sich in Folge des Rückzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan Flüchtlinge auf den Weg nach Europa und Deutschland machen. Armin Laschet mahnte sorgenvoll, man dürfe „die Fehler von 2015 nicht wiederholen“. Damals kamen tausende Flüchtlinge nach Deutschland und kosteten die Union nach eigener Einschätzung manche Stimme in Bund und Land.
Eine aktuelle Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zeigt allerdings, dass die hohen Migrationszahlen damals mit der Tagespolitik nichts zu tun hatten. Sie waren demnach vielmehr „das Ergebnis eines Aufwärtstrends, der bereits 2010 begann und sich 2014 und 2015 zum Teil durch Finanzierungslücken bei der Versorgung von Flüchtlingen in den Erstaufnahmeländern im Nahen Osten intensivierte“. Statt sich weiter zu beschleunigen, seien die Migrationszahlen nach 2015 deutlich zurückgegangen – sogar schneller als in anderen EU-Zielländern.