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Vor 25 Jahren: Abtreibungsprozess in Memmingen: Frauen am Pranger

Vor 25 Jahren

Abtreibungsprozess in Memmingen: Frauen am Pranger

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    Das Baby bekommen oder nicht? Eine Abtreibung ist für Frauen nie eine leichte Entscheidung. Manche kommen ihr Leben lang nicht darüber hinweg, sich dagegen zu entscheiden.
    Das Baby bekommen oder nicht? Eine Abtreibung ist für Frauen nie eine leichte Entscheidung. Manche kommen ihr Leben lang nicht darüber hinweg, sich dagegen zu entscheiden. Foto: Peter Endig/dpa

    Draußen auf dem Flur drängen sich scharenweise Frauen, zum Teil mit Kindern, als der Prozess gegen den Gynäkologen Horst Theissen eröffnet wird. Der Sitzungssaal des Memminger Landgerichts ist viel zu klein, um alle Besucher zu fassen. Wer es doch schafft, zum Auftakt des spektakulärsten „Abtreibungsprozesses“ der deutschen Rechtsgeschichte einen Platz zu ergattern, muss ihn wieder verlassen. Ein anonymer Anrufer droht, den Angeklagten zu erschießen. Die Polizei räumt den Saal und durchsucht jeden Einzelnen nach Waffen. Bei keinem wird eine gefunden.

    Es geht hoch her an jenem 8. September 1988 im Memminger Landgericht. Auch davor und danach kochen die Emotionen hoch. Aus der ganzen Bundesrepublik reisen Demonstranten nach Memmingen, um Solidarität mit Dr. Theissen zu bekunden und die Abschaffung des Paragrafen 218 zu fordern. Im Gegenzug sperrt ein Memminger Pfarrer seine Kirche zu, weil er Chaoten fürchtet. Ein ökumenischer Gottesdienst „für das Leben“ wird gefeiert und in der Stadthalle ein gegen Abtreibung gerichteter Film gezeigt. „Der stumme Schrei“ ist sein Titel.

    Die Betroffenen zahlen, um anonym zu bleiben – vergeblich

    Die Empörung der liberal denkenden Prozessbeobachter entzündet sich vor allem daran, dass betroffene Frauen an die Öffentlichkeit gezerrt werden. Fast alle, die ohne erforderliche Beratung und Feststellung einer Indikation in Theissens Memminger Praxis einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen, zahlen widerspruchslos Geldstrafen zwischen 900 und 3000 Euro, „um keinen Staub aufzuwirbeln“, bedauert damals die Augsburger Rechtsanwältin Heike Gall-Alberth.

    Die Frauen wollen ein Gerichtsverfahren vermeiden. Doch es nützt ihnen nichts. Sie müssen im Prozess gegen ihren Arzt als Zeuginnen aussagen. Ihre intimsten Probleme kommen zur Sprache, mitunter eine ungewollte Schwangerschaft nach einem Seitensprung. Das Gericht unter Vorsitz von Albert Barner, Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigen sich zwar auf eine Zeugenvernehmung hinter verschlossenen Türen. Doch es werden alle 156 Namen öffentlich verlesen.

    Die Staatsanwaltschaft erhält die Patientenkarten vom Finanzamt

    Es sind die Namen derer, die auf ihrer Patientenkarte den Vermerk „I“ für „Interruptus“ (Abbruch) haben. Nach einer anonymen Anzeige wegen Steuerhinterziehung gegen Theissen wird die Kartei von Kontrolleuren des Finanzamts beschlagnahmt, und diese geben sie an die Staatsanwaltschaft weiter. Datenschutz ist kein Thema.

    „Sehr viele Frauen wurden durch den Prozess bloßgestellt“, erinnert sich heute der Münchner Anwalt Wolfgang Kreuzer, einer der drei Verteidiger Theissens. „Ich fand es entsetzlich, dass sie kein Schweigerecht hatten.“ Sein Antrag, ihre Anonymität zu wahren, wird vom Gericht abgelehnt.

    Einer Patientin bleibt der Auftritt im Theissen-Prozess allerdings erspart: Magdalena Federlin aus Aichach. Sie erhebt Einspruch gegen den Strafbefehl, der ihr 1987 zugestellt wird – „drei Monate vor der Verjährung“, weiß die heute 52-jährige Mutter von drei Söhnen noch. Federlin geht als Einzige den Weg durch die Instanzen. Später bringt ihr das den Preis „Aufrechter Gang“ der Humanistischen Union ein. Weil ihr eigenes Verfahren zu Beginn des Theissen-Prozesses noch läuft, wird sie nicht als Zeugin geladen.

    Manch einer fühlt sich "an einen mittelalterlichen Hexenprozess" erinnert

    Dabei scheut gerade sie die Öffentlichkeit keineswegs. Federlin ist voller Zorn über die Art der Ermittlungen. Nach dem ersten Schock wehrt sie sich, äußert sich auf Podien, hält Reden. Im Juli 1988 tritt sie bei einer Pressekonferenz der Grünen in München auf. „Es war demütigend und erniedrigend, was wir über uns ergehen lassen mussten“, sagt sie damals. Die Landtagsabgeordnete Margarete Bause fühlt sich „an einen mittelalterlichen Hexenprozess“ erinnert – ein Begriff, der fortan häufig verwendet wird. „Ein Skandal sondergleichen“, schimpft Federlin noch 25 Jahre danach am Handy im Urlaub in Kroatien. Sie ging infolge ihrer Erlebnisse in die Politik und ist heute Stadträtin der Grünen in Aichach.

    Ihre ganze Familie, die Eltern, das Jugendamt, ja selbst der Kreditsachbearbeiter ihrer Bank, bei der sie Schulden hatte, seien in die Ermittlungen gegen sie involviert gewesen. Als allein erziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes, die gerade versuchte, mit einem Naturkostladen eine Existenz aufzubauen, habe sie eine erneute Schwangerschaft damals nicht bewältigen können. „Es war eine soziale Notlage“, sagt sie.

    Bayern plant ein Adoptionsgesetz zum Schutz ungeborenen Lebens

    Doch diese Indikation wird bei kaum einer der 156 im Zusammenhang mit dem Theissen-Prozess verurteilten Frauen anerkannt. Sie hätten ja das Kind zur Adoption freigeben können, bekommen sie von den Richtern zu hören. Die bayerische Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner (CSU) plant sogar ein „Adoptionsgesetz“ – eine Art Übernahmegarantie für ungewollt geborene Kinder durch den Staat. Federlin empfindet es dagegen in ihrer damaligen Situation als „Glücksfall“, einen Menschen wie Dr. Theissen gefunden zu haben. Ein Schwangerschaftsabbruch sei schwer genug. „Aber er lief respektvoll und würdevoll ab.“

    Neun Monate dauert der Memminger Prozess gegen den damals 49 Jahre alten Theissen. Der Angeklagte mit dem grau melierten Bart und der großen Brille wird zum Medienstar. Charakteristisch ist sein scheues Lächeln. Er habe sich Zeit genommen für seine Patientinnen und ihre Probleme stets ernst genommen, sagt er über sich. Der aus Kleve am Niederrhein stammende, streng katholisch aufgewachsene Theissen kommt in Bedrängnis, als Schwangerschaftsabbrüche in Bayern wie auch in Baden-Württemberg nicht mehr ambulant in Praxen durchgeführt werden dürfen. Er macht trotzdem weiter.

    Viele Betroffene fahren zu Abtreibungen in andere Bundesländer. Als gegen Ende des Prozesses bekannt wird, dass einer der drei Memminger Berufsrichter Jahre zuvor, als er noch Staatsanwalt war, daran mitgewirkt hat, dass seine schwangere Freundin in Hessen einen Abbruch vornehmen ließ, haben Theissens Anwälte Oberwasser. Der betreffende Richter habe sich im Prozess dadurch hervorgetan, dass er die Zeuginnen und deren Partner „mit bohrenden Fragen nach ihren persönlichen und privaten Verhältnissen massiv bedrängte“, sagt zu dieser Zeit Theissens Verteidiger Sebastian Cobler.

    Ein Richter muss gehen, weil seine Freundin abgetrieben hat

    Dem Antrag, den Richter wegen Befangenheit abzulösen, wird stattgegeben. Der Vorsitzende Albert Barner räumt ein, „dass die intensive Art der Befragung“ durch den dann abgelehnten Richter darauf zurückzuführen sei, dass er „dem Angeklagten nicht mit der erforderlichen Distanz eines unbeteiligten Dritten gegenübersteht“. Dieser kleine Triumph rettet Theissen nicht vor der Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche und Steuerhinterziehung. Außerdem wird ein dreijähriges Berufsverbot verhängt.

    Theissens Anwälte gehen in Revision, doch die Existenzgrundlage des Verurteilten ist weg, die Praxis verkauft. Freunde und Spender ermöglichen ihm die Eröffnung einer Naturheilpraxis im hessischen Bensheim. Jahre später verkauft er auf der Allgäuer Festwoche in Kempten chinesisches Kräuteröl.

    Zu diesem Zeitpunkt ist Theissen in der öffentlichen Wahrnehmung rehabilitiert. Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt zwar das Memminger Urteil im Wesentlichen. Weil allerdings 20 Fälle verjährt waren, muss in einer Revisionsverhandlung vor dem Augsburger Landgericht das Strafmaß neu verhandelt werden. Das Ergebnis im Januar 1994: eineinhalb Jahre auf Bewährung – und kein Berufsverbot. Sogar der Augsburger Oberstaatsanwalt Jörg Hillinger bescheinigt dem Angeklagten, „ein fürsorglicher Arzt“ zu sein, „wie man ihn sich wünscht“.

    Demonstrationen und empörte Bürger

    Inzwischen hat sich die Spur Theissens verloren. Selbst Wolfgang Kreuzer, einer seiner früheren Anwälte, weiß nicht, wo sich der inzwischen 75-Jährige aufhält. Zuletzt habe er in Bozen gewohnt. Doch die damalige öffentliche Debatte hat Folgen bis heute.

    „Unter dem Eindruck des Prozesses hat der Bundestag letztlich die Fristenlösung eingeführt“, sagt Kreuzer. „Memmingen ist ein bedrückender Zustand“, befindet die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) in einer aktuellen Stunde im Bundestag während des Prozesses. Abgeordnete üben Richterschelte und Tausende gehen auf die Straße, um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen und „Hilfe statt Strafe“ einzufordern.

    „Es war der bedeutendste Prozess meines Lebens“, sagt Anwalt Wolfgang Kreuzer, der sich mittlerweile auf Wirtschafts- und Steuerrecht spezialisiert hat. Es erfülle ihn immer noch mit Stolz, dass die konsequente Verteidigung Theissens am Ende Erfolg hat. Kreuzers Frankfurter Kollege Sebastian Cobler erlebt die Genugtuung nicht mehr. Sterbenskrank hat er seinen letzten Prozess durchgehalten. An dem Tag, an dem die schriftliche Urteilsbegründung des Augsburger Revisionsprozesses eintrifft, fährt Kreuzer zu Coblers Beerdigung.

    Pro Familia: „Der unglaubliche Druck der Illegalität ist weg“

    Inzwischen habe „die zweite Generation“ Frauen von den positiven Veränderungen nach dem Memminger Prozess profitiert, sagt die Diplom-Sozialpädagogin Eva Zattler. „Der unglaubliche Druck der Illegalität ist weg.“ Seit 27 Jahren arbeitet Zattler bei Pro Familia in München in der Schwangerenkonfliktberatung. Ein Abbruch sei immer eine schwierige Entscheidung. Aber der Memminger Prozess habe bei Betroffenen damals „alles überschattet“. Die rechtlichen Erleichterungen durch die bis heute geltende Beratungslösung haben nicht zu einer Zunahme der Schwangerschaftsabbrüche geführt. Im Gegenteil: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind sie in Deutschland von 130899 im Jahr 1996 auf 106815 im Jahr 2012 zurückgegangen. Das Prinzip „Hilfe statt Strafe“, so Zattler, habe sich bewährt.

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