Eine vermeintlich zeitlose politische Weisheit scheint umgeschrieben werden zu müssen. Nach Victor Hugo lautet diese: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Wenn man auf die aktuellen Entwicklungen der politischen Landschaft blickt, scheint aber zu gelten: Nichts ist mächtiger als Ängste, die ihre Wirkung entfalten.
Allein der Blick auf Deutschland zeigt ja: Die Migrationskrise, gipfelnd in Thilo Sarrazins Buchtitel „Deutschland schafft sich ab“, hat die AfD erstarken lassen; die Klimakrise, gipfelnd in Harald Leschs Buchtitel „Die Menschheit schafft sich ab“, hat die Grünen erstarken lassen. Und nun kann man sich zwar bemühen, die Unterschiede zwischen beiden kenntlich zu machen, indem man den Wahrheitsgehalt ihrer Untergangsprognosen am jeweiligen Grad ihrer Wissenschaftlichkeit bemisst. Tatsächlich aber spielt das für die Stimmung, die heute allzu oft über Stimmen entscheidet, kaum eine Rolle.
Nichts ist mächtiger als Ängste, die ihre Wirkung entfalten
Die Lager haben sich durch die Resonanz auf die Angstszenarien gebildet, dagegen kommt keine Aufklärung an. Die AfD hat den größten Aufwind im Osten des Landes, die Grünen ein erheblich stärkeres Plus im Westen – beides gerade auch bei den jungen Leuten. Und während die AfD auf die Migrationskrise baut und die Klimakrise für Hysterie hält, ist es bei den Grünen andersrum. Grüne haben der Regierung in der Migrationskrise vorgeworfen, sich von der AfD vor sich her treiben zu lassen, die AfD sieht das Gleiche in der Klimakrise. Was zwischen diesen Polen in der Opposition jeweils dazu führt, dass SPD und Union in beiden Krisenfragen keine gute, eine unentschlossene Figur machen.
Und die ehemaligen Volks-, jetzt nur GroKo-Parteien? Beginnen bereits, zwischen diesen Lagern schrumpfend und wie aus Notwehr, auch keine Unterschiede mehr zu machen. Der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer warf den Grünen die gleiche Kompromisslosigkeit wie der AfD vor, SPD-Bundesvize Thorsten Schäfer-Gümbel einen ähnlichen Populismus.
Aber natürlich geht die Gleichstellung schon allein strukturell nicht auf. Während die AfD als Protestpartei gerade auf rigorose Positionen setzt und ja auch setzen muss, um sich die ihren Markenkern treffenden Ängste zunutze zu machen, haben die Grünen diese Phase in den 80ern erlebt und meiden nun zumindest in der Spitze jede Nähe zum einstigen „Fundi“-Image der Verbotspartei. Sie können ja nun geradezu als betont „Realo“-liberale Demokraten mehr oder weniger dabei zusehen, wie die ihren Markenkern betreffenden Ängste mehrheitsfähig werden.
Zwischen Stimme und Stimmung gibt es einen Unterschied
Das macht die Antwort für die GroKo-Parteien auch nicht gleich. Gegen die AfD lässt sich Angst mit Angst bekämpfen – der vor deren Extremismus. Gegen diese Grünen aber lässt sich bloß noch der Hinweis in Stellung bringen, dass der Umgang mit Ängsten in der Regierung ein anderer sein muss als in der Opposition. Es war nur gerade die in der Migrationskrise unter Druck geratene GroKo-Kanzlerin Angela Merkel, die sagte, man müsse die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Und dabei versäumte zu unterscheiden, so die Publizistin Carolin Emcke, dass Sorgen dennoch keine Fakten seien, an denen das politische Handeln auszurichten wäre.
Auch darum also: Nichts ist mächtiger als Ängste, die ihre Wirkung entfalten. Und doch führt der Befund zur politischen Entwicklung zurück zu Victor Hugo. Denn nicht allein an den Ängsten, auf die sie antworten, sollten Parteien erkennbar werden – sondern vor allem an den Ideen, denen sie zur Durchsetzung verhelfen wollen. Nur dann ist in der Demokratie eine Stimme mehr als eine Stimmung.
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