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Sollen Türken frei in die EU reisen dürfen?
![Die Türkei wünscht sich eine Visa-Liberalisierung. Dafür muss das Land allerdings 72 Punkte erfüllen. Die Türkei wünscht sich eine Visa-Liberalisierung. Dafür muss das Land allerdings 72 Punkte erfüllen.](https://www.augsburger-allgemeine.de/resources/1715673836705-1/ver1-0/img/placeholder/16x9.png)
Der langgehegte Wunsch aus Ankara könnte durch den Deal mit Brüssel in Erfüllung gehen. Doch die Voraussetzungen sind bisher nicht erfüllt. Was müssen die Türken erfüllen?
Es klingt wie eine Stimme aus einer anderen Zeit: „Wir müssen wissen, wer mit welchem Ziel und Zweck in den Schengen-Raum einreist!“ Dabei ist es nicht einmal dreieinhalb Jahre her, dass der Bundesinnenminister, der damals Hans-Peter Friedrich hieß und von der CSU kam, in einem Interview diese Worte sprach. Er wandte sich damit gegen die mögliche Aufhebung der Visumspflicht für Bürger der Türkei bei Reisen in die EU. Denn: „Als Bundesinnenminister muss ich Sicherheitsrisiken im Blick behalten – und darum geht es.“
Nicht nur die Zahl der Flüchtlinge ist ein Problem
Seit die Bundesregierung im vergangenen September aus humanitären Gründen die Asylregelungen in der Europäischen Union praktisch außer Kraft gesetzt hat und einen unkontrollierten Flüchtlingsstrom ins Land ließ, sind die Sicherheitsaspekte mehr als vernachlässigt worden. Nicht nur die Zahl von über einer Million Einwanderer stellt heute ein Problem dar, sondern auch, dass sich Islamisten, potenzielle Attentäter, heimkehrende Dschihadisten aus dem syrischen Bürgerkrieg und Kriminelle in den Strom der Flüchtlinge gemischt haben. Beate Merk: "Einer Visa-Freiheit stimmt die CSU nicht zu"
Jetzt versucht die Europäische Union verzweifelt, die Kontrolle über ihre Außengrenzen zurückzugewinnen. Ein Deal mit Ankara, über den von heute an beim EU-Türkei-Gipfel in Brüssel verhandelt wird, soll die Rückkehr zu geordneten Verhältnissen bringen.
Allerdings gehört zu den Leistungen, die Ankara von der EU für die Rücknahme von irregulär eingereisten Migranten erwartet, dass bereits von Juni an Türken die visafreie Einreise nach Europa gestattet wird. Bedenken, wie vom früheren Innenminister Friedrich geäußert, hatten das bisher verhindert.
Doch stellte der Visumszwang andererseits eine Diskriminierung Ankaras gegenüber den weiteren EU-Beitrittskandidaten dar. Denn Serben, Albaner, Mazedonier und Montenegriner müssen sich die Einreise in die EU nicht mehr eigens mit einem Vermerk genehmigen lassen (sofern sie einen biometrischen Pass besitzen) – ausgerechnet die Bürger des ältesten Beitrittskandidaten, der Türkei, aber schon. Daher wird seit Ende 2013 zwischen der EU und der Türkei über einen Fahrplan zur Visafreiheit verhandelt. Im Oktober sollte das Ziel erreicht werden.
Visa-Liberalisierung: 72 Punkte muss die Türkei für die Visa-Freiheit erfüllen
Nun soll es also schneller gehen. Doch das wird schwierig. Der Fahrplan für die Visa-Liberalisierung umfasst 72 Punkte, die von der Türkei zu erfüllen sind. Viele davon können bisher nur teilweise oder gar nicht abgehakt werden, wie ein vor wenigen Tagen von der EU-Kommission vorgelegter Bericht zeigt.
Einige EU-Staaten bestehen ungeachtet der prekären Flüchtlingssituation darauf, dass – wie die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sagt – in den Visa-Verhandlungen „keine Abstriche“ gemacht werden.
Verlangt wird von der Türkei zum Beispiel die Ausgabe von Pässen, in denen neben dem Foto auch Fingerabdrücke als biometrische Daten gespeichert sind. Das ist offenbar in Arbeit.
Das Zypern-Problem muss gelöst werden
Die Erfordernisse des Datenschutzes aber sind noch nicht umgesetzt. Auch die Verhandlungen mit Staaten, deren Bürger bisher visumsfrei in die Türkei einreisen können – was diesen ermöglichen könnte, von dort aus in den Schengen-Raum weiterzufliegen –, sind noch nicht abgeschlossen. Betroffen sind unter anderem Afghanistan, Pakistan und Bangladesch, aber auch nahöstliche und nordafrikanische Länder.
Dann gibt es da noch das Zypern-Problem: Die Türkei verlangt von Bürgern der zur EU gehörenden Inselrepublik, dass sie sich in ihrem Visumsantrag als Einwohner der „Griechisch-zyprischen Verwaltung von Süd-Zypern“ bezeichnen – eine Diskriminierung, mit der die Türkei den von ihr besetzten Teil der Insel völkerrechtlich aufwerten will. Wenn dies nicht beseitigt wird, dürfte die Regierung in Nikosia der Visa-Liberalisierung nicht zustimmen. Diese kann aber nur in Kraft treten, wenn sie von allen 28 EU-Staaten und vom Europäischen Parlament gebilligt wird.
Sollte die Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger kommen, wer wird dann von ihr Gebrauch machen? Vor allem Geschäftsleute warten ungeduldig darauf, dass sie leichter nach Europa reisen können. Auch für Touristen wird ein bürokratisches Hindernis beseitigt. Möglicherweise werden aber auch Arbeitssuchende einreisen, die in Europa einer illegalen Beschäftigung nachgehen wollen.
Für die EU bedeutet das vermutlich: Mehr Flüchtlinge
Zudem muss die EU mit mehr Asylbewerbern rechnen, die direkt aus der Türkei kommen. Der bewaffnete Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und Kurden-Organisationen schafft Asylgründe. Dasselbe gilt für die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit, die unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zum Normalfall geworden ist.
Erhält Europa dann zu den syrischen Flüchtlingen, die künftig per Kontingent aus der Türkei übernommen werden sollen, eine weitere Flut von Asylbewerbern direkt aus der Türkei? Konservative Politiker wie die Wiener Ministerin Mikl-Leitner verlangen jedenfalls, im Vertrag über die Visa-Liberalisierung für den Fall der Fälle ein Aussetzungs- oder Kündigungsrecht vorzusehen: „Sollten verstärkt Gründe für Asylanträge von türkischen Staatsbürgern entstehen, muss die Vereinbarung mit der Türkei insgesamt gekündigt werden“, fordert sie.
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