Was darf der Staat in der Pandemie - und was nicht? Quer durch die Republik haben Gerichte Beherbergungsverbote, Sperrstunden und Alkoholverbote gekippt, das ungleiche Behandeln von Einzelhändlern im Lockdown korrigiert oder Ausgangssperren für rechtswidrig erklärt. Nur das höchste Gericht, das Bundesverfassungsgericht, hat bisher keine substanzielle Entscheidung über die Anti-Corona-Politik von Bund und Ländern getroffen – obwohl dort Hunderte von Verfahren anhängig sind.
Das soll sich noch im November ändern. Wie ein Sprecher des Gerichts bestätigt, will der erste Karlsruher Senat jetzt über „mehrere ausgewählte Hauptsacheverfahren“ entscheiden, in denen es vor allem um die so genannte Bundesnotbremse geht. Mit dem am 23. April in Kraft getretenen Gesetz hatte die Regierung die rechtliche Basis für Kontaktbeschränkungen für private Treffen und Ausgangsbeschränkungen gelegt, Sportmöglichkeiten eingeschränkt sowie Theater, Museen und Teile des Handels geschlossen.
Einer der Beschwerdeführer gegen die Corona-Politik des Bundes kommt aus dem Allgäu
Ob die Große Koalition hier zu autoritär vorgegangen ist oder ob der Kampf gegen die Pandemie auch derart harte Einschränkungen der persönlichen Freiheiten rechtfertigt: das dürfte mitten in der vierten Corona-Welle auch den Handlungsrahmen für die neue Regierung abstecken. Im Moment ist die Notbremse zwar ausgesetzt, sie kann aber theoretisch jederzeit wieder bemüht werden – auch wenn die Ampelparteien einen Teil der „Folterwerkzeuge“ darin, allen voran die Ausgangssperren, ablehnen.
Der FDP-Abgeordnete Stephan Thomae ist einer der Beschwerdeführer in Karlsruhe. Wie absurd eine Regelung wie eine nächtliche Ausgangssperre sein kann, erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion an einem ganz persönlichen Beispiel: Sein Wohnhaus in Sulzberg im Allgäu ist durch eine öffentliche Straße vom Anwesen seiner Vorfahren getrennt, auf dem auch die Garage für sein Auto steht. Hätte Thomae dieses zur Zeiten der Notbremse um punkt 22 Uhr dort angestellt, hätte er eine Minute später die Straße zu seinem Haus schon nicht mehr überqueren dürfen, ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen. Umso mehr, sagt er, achteten die Ampelparteien jetzt darauf, dass Anti-Corona-Maßnahmen nicht nur geeignet, sondern auch angemessen sein müssten. Vom Verfassungsgericht hätte er sich zwar ein früheres Votum gewünscht. „Allerdings verlangen dessen Urteile auch eine besondere Gründlichkeit, weil sie ja vor keinem anderen Gericht mehr angegriffen werden können.“
Ein Verfassungsrechtler sagt: Dieses Urteil zu den Corona-Maßnahmen ist überfällig
Andere sind weniger geduldig. „Eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Corona-Maßnahmen ist nach fast zwei Jahren Pandemie überfällig“, sagt der Augsburger Staatsrechtler Josef Franz Lindner. Angesichts der sich wieder zuspitzenden Lage müsse das höchste Gericht dringend den verfassungsrechtlichen Rahmen abstecken, in dem sich die Corona-Politik insbesondere der Länder zu bewegen habe. „Irritierend“ findet es Lindner dabei, dass das Gericht in dieser grundsätzlichen Frage quasi nach Aktenlage und ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Auch deshalb hatte das Bundesverfassungsgericht zuletzt einiges an Kritik auszuhalten. Dass sich die 16 Richter ein paar Monate vor einem wichtigen Urteil zur Corona-Politik der Regierung zum Abendessen mit der Kanzlerin und mehreren Ministern trafen, hat Gerichtspräsident Stephan Harbarth und der Richterin Susanne Baer einen Befangenheitsantrag eines Berliner Rechtsanwaltes im Auftrag der Freien Wähler eingebracht, den das Gericht allerdings abgewiesen hat. Einer der Vorwürfe: Auf eine öffentliche Erörterung des brisanten Themas in Karlsruhe verzichtet das Gericht – dafür lässt es sich die Notbremse von Justizministerin Christine Lambrecht bei einem vertraulichen Abendessen im Kanzleramt erläutern. Harbarth und seine Kollegin Baer dagegen, die an jenem Abend ebenfalls einen kurzen Vortrag hielt, verteidigen das Treffen dagegen als Teil des üblichen Gedanken- und Erfahrungsaustausches.
Bisher hat Karlsruhe lediglich in einigen Eilverfahren vorläufige Fakten geschaffen. Unter anderem verwarf das Gericht Anfang Mai mehrere Eilanträge gegen die in der Bundesnotbremse enthaltenen Ausgangssperren. Eine Folgenabwägung, argumentierten die Richter dabei, spreche nicht gegen ein sofortiges Aussetzen des Gesetzes. Die Ausgangsbeschränkungen griffen zwar tief in die Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein, seien aber durch zahlreiche Ausnahmen gemildert. So sei es möglich, bis 24 Uhr allein zu joggen. Rückschlüsse auf das Urteil in der Hauptsache, wie Juristen das eigentliche Verfahren nennen, lasse das aber nicht zu: „Damit ist nicht entschieden, dass die Ausgangsbeschränkung mit dem Grundgesetz vereinbar ist“
Insgesamt stapeln sich beim Verfassungsgericht inzwischen 305 Verfahren gegen die Bundesnotbremse, dazu kommen 149 Eingaben, die sich meist gegen einzelne Maßnahmen richten. Wie stark die Pandemie die Justiz insgesamt beschäftigt, zeigen die Zahlen des Deutschen Richterbundes. Danach sind alleine im ersten Corona-Jahr 2020 bei den Verfassungs- und Verwaltungsgerichten rund 10.000 Klagen aufgelaufen, dazu kommen mehr als 25.000 Fälle für die Strafjustiz, beispielsweise wegen erschlichener Corona-Hilfen oder betrügerischen Maskengeschäften.