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Vereinigtes Königreich: Wahl in Schottland: Gibt es einen neuen Anlauf für die Unabhängigkeit?

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Wahl in Schottland: Gibt es einen neuen Anlauf für die Unabhängigkeit?

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    Einfach nur „Ja“ oder „Nein“ anzukreuzen wie beim Unabhängigkeitsreferendum 2014, geht bei der Wahl des Regionalparlaments natürlich nicht.
    Einfach nur „Ja“ oder „Nein“ anzukreuzen wie beim Unabhängigkeitsreferendum 2014, geht bei der Wahl des Regionalparlaments natürlich nicht. Foto: Andrew Milligan/PA Wire, dpa (Archivbild)

    Der Freiheitskampf beginnt vor einem Wettbüro gleich neben einem Kebab-Laden. Angus Robertson trägt Jeans und weiße Sneakers, über die Daunenjacke hat sich der 51-Jährige eine neongelbe Weste gestreift. „Stronger for Scotland“, stärker für Schottland, steht auf der Brust. Robertson leuchtet an diesem Mittwochabend regelrecht im grauen Nieselregen von Edinburgh. Mit schnellen Schritten geht er durch die Straßen, klingelt sich durch verwechselbare Häuserblocks und schiebt auf jeder Etage Flugblätter durch die Briefschlitze. „Bitte geht wählen“, ruft er den wenigen Passanten zu, denen er begegnet, und streckt die Daumen nach oben.

    Der Politiker versprüht Optimismus, und möchte man den Umfragen glauben, hat der Kandidat der Schottischen Nationalpartei SNP im wichtigen Wahlbezirk Edinburgh Central dazu allen Grund. An diesem Donnerstag wählen 5,5 Millionen Schotten ein neues Regionalparlament. Doch es wäre vermessen, diesen Urnengang als lokale Angelegenheit abzutun. Es könnte vielmehr eine Schicksalswahl werden – für das Vereinigte Königreich, für den britischen Premierminister Boris Johnson, für die EU, aber vor allem für Schottland selbst.

    Denn die SNP will nichts wie raus aus der Union mit England, die in ihrer 314-jährigen Geschichte zwar nie ganz einfach war, aber als erfolgreich bezeichnet werden darf. Nun bröckelt die Vereinigung wie vielleicht nie zuvor. „Scexit“ nennen die Abspaltungsbefürworter den Traum von der Unabhängigkeit, der nach dem verlorenen Referendum 2014 kurz ausgeträumt schien und dann durch die europaskeptischen Konservativen in Westminster und das Brexit-Votum wieder beflügelt wurde. Bei der Abstimmung um Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU 2016 sprachen sich knapp zwei Drittel der Menschen in Schottland für den Verbleib aus. Besiegt und gelenkt von

    Angus Robertson tritt in Edinburgh für die Scottish National Party an.
    Angus Robertson tritt in Edinburgh für die Scottish National Party an. Foto: Katrin Pribyl

    Endlich die eigenen Entscheidungen im eigenen Land über die eigene Zukunft treffen: So verlangt es Angus Robertson, der eine deutsche Mutter hat und sich als Europäer betrachtet. „Wir wurden gegen unseren Willen aus der EU gezerrt.“ Es ist der Schlachtruf der Nationalisten, angeführt von der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon. Die SNP will den Brexit umkehren. Zurück in die Zukunft, wenn man so will.

    "Das ist die wichtigste Wahl in Schottlands Geschichte"

    Sturgeon verpasst keine Gelegenheit, Schottland als weltoffenen, sozialliberalen und europafreundlichen Gegenentwurf zum isolationistischen, engstirnigen und intoleranten Brexit-England zu bewerben. Gleichzeitig stilisiert sich Sturgeon als so etwas wie der Anti-Boris. So konnte sie während der Pandemie geschickt übertünchen, dass das Krisenmanagement im Ergebnis kaum besser ausfiel als in England.

    Während Johnson mit hochtrabenden, unrealistischen Versprechen und Kehrtwenden verwirrte, präsentierte sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Der Premier ist, das kann man nicht anders sagen, ein Geschenk für die Unabhängigkeitsfans und hat sich zum besten Rekrutierer für die Bewegung entwickelt. „Johnson erinnert die Menschen an die Hässlichkeit des englischen Nationalismus“, sagt David Leask von der schottischen Tageszeitung The Herald. Immerhin in diesem Punkt scheint weitgehende Einigkeit in der sonst gespaltenen Gesellschaft zu herrschen.

    Diese Wahl sei „die wichtigste in Schottlands Geschichte“, verkündete Sturgeon und schürte damit hohe Erwartungen. Unter Umständen zu hohe? Dass die seit 14 Jahren regierende SNP erneut stärkste Kraft wird, steht außer Zweifel. Hinzu kommt, dass auch die Grünen zum abspaltungswilligen Lager gehören. Die Frage ist nur: Wie groß wird die Mehrheit für die Nationalisten sein? Ohne absolute Mehrheit dürfte es der SNP schwerfallen, den Ausgang als Erfolg zu verkaufen.

    Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland, sitzt bei einem Wahlkampfbesuch mit dem dreijährigen Christopher Mutch auf einem Traktor.
    Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland, sitzt bei einem Wahlkampfbesuch mit dem dreijährigen Christopher Mutch auf einem Traktor. Foto: Jane Barlow/PA Wire, dpa

    Dabei plant die Erste Ministerin, mit einem eindeutigen Mandat der Wähler im Rücken ein erneutes Referendum zu fordern. Ihr größtes Problem sitzt jedoch in der Downing Street. Regierungschef Johnson muss einer Volksbefragung zustimmen, was der Konservative vehement ablehnt. Noch. Der Druck könnte zu groß werden. „Falls London den Menschen in Schottland sagt, sie könnten keine demokratische Wahl über die Zukunft ihres eigenen Landes haben, verlagert sich die Angelegenheit und es ist nicht mehr länger eine Frage der Unabhängigkeit, sondern der Demokratie“, sagt der Sturgeon-Vertraute Angus Robertson.

    Vor der Schottland-Wahl herrscht in London latente Panik

    Wie die Staatengemeinschaft auf die Hoffnungen der Schotten reagieren wird, steht derweil noch aus. Doch Robertson nennt es das „beste Gegenmittel“ für die geschundene Seele der EU-Freunde. „Was sagt es aus, wenn ein Teil von Brexit-Britannien nicht in Brexit-Britannien bleiben, sondern unmittelbar zurück in die EU will?“ In Brüssel dürfte ihnen das Herz aufgehen.

    In Westminster dagegen herrscht latente Panik. Plötzlich loben die europaskeptischen Konservativen die Vorteile einer Union und malen Horrorszenarien für den Fall einer Abspaltung. Die Ironie dürfte selbst ihnen kaum entgehen. Trotzdem, die wirtschaftlichen Herausforderungen eines autonomen Schottlands sind immens. Würde es eine Handelsgrenze zwischen dem nördlichen Landesteil und England geben? Welche Währung würden die Schotten nutzen? Der Brexit klingt wie eine Kindergeburtstagsübung angesichts der Aussicht, die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Schottland und dem Rest des Königreichs auflösen zu müssen.

    Auf die schottische Wirtschaft kämen Kosten zu, die zwei oder drei Mal teurer ausfallen würden als jene des Brexits, prophezeiten jüngst Wissenschaftler der London School of Economics in einer Studie. Gegner der Abspaltung verfolgten mit Entsetzen die Brexit-Dramen der letzten Jahre und schütteln nun erst recht den Kopf.

    Vor dem Schloss in Edinburgh steht ein Händler mit Magneten, auf denen die schottische Flagge mit dem weißen Andreaskreuz prangt. Der Patriotismus der schottischen Rebellen mag in Königsblau gehüllt sein, doch er berührt mehr als Dudelsackklänge, Tartans und Whisky aus den Highlands. Es geht um Emotionen. Um Herzblut. Ein bisschen Braveheart, ein bisschen Anti-England, vor allem aber soll ein nationaler Aufbruch stattfinden. Jetzt könnten sie die vorerst letzte Chance erhalten.

    Zuletzt gab es eine leichte Mehrheit gegen die Unabhängigkeit

    Zwischenzeitlich lagen die Befürworter einer Loslösung in Umfragen sogar vorn. Zuletzt zeigten diese wieder eine leichte Mehrheit für die Anhänger der Union. Experten schieben die Entwicklung auch auf den Brexit, der nicht so schlimm wie befürchtet ausgefallen ist. Außerdem sind die Menschen zurzeit vor allem mit der Corona-Krise beschäftigt, noch immer gelten weitreichende Restriktionen, sodass der Appetit auf ein Referendum in vielen Ecken äußerst gering ist.

    Unter den Anhängern einer schottischen Unabhängigkeit herrschte Trauer nach dem verlorenen Referendum 2014.
    Unter den Anhängern einer schottischen Unabhängigkeit herrschte Trauer nach dem verlorenen Referendum 2014. Foto: Robert Perry/epa, dpa (Archivbild)

    In Kirkcaldy scheint die Stimmung bereits gekippt zu sein. So deuten es Umfragen an. Nur rund 40 Zugminuten von Edinburgh entfernt liegt das Küstenstädtchen, das einst Ruhm als „Fußboden der Welt“ erlangte; es war das Zentrum der Linoleum-Produktion. Der Geruch aus den Fabriken, so erzählen sie es sich bis heute, war streng, gehörte aber zum Alltag und garantierte Wohlstand. In den 60er Jahren jedoch begann der Niedergang. Erst schloss eine Fabrik nach der anderen, dann machten auch die nahen Kohleminen zu. Zahlreiche Menschen verloren ihre Jobs. In dem Ort hat das Spuren hinterlassen. Verlassene Geschäftszeilen wechseln sich in der Fußgängerzone mit Ein-Pfund-Billigläden ab. 2014 noch wollte die Mehrheit der Bewohner Teil des Königreichs bleiben, heute scheinen die Abspaltungsbefürworter zu überwiegen.

    Louise McGeachy gehört zu jenen, die einen Sinneswandel hatten. Ihr Urgroßvater war einer der Gründungsväter der SNP, die Sehnsucht nach Unabhängigkeit wurde weitervererbt bis zum Vater. McGeachys Mutter steht dagegen auf der anderen Seite. Im Elternhaus hing deshalb während der Kampagne in einem Fenster ein „No!“-Poster, im anderen ein „Yes!“-Plakat. Die Frage stört seit Jahren den Familienfrieden bei den McGeachys. Die junge Schottin lacht. „Meine Mutter ist alles andere als glücklich über meinen Meinungsumschwung.“ Mehrere Faktoren hätten dazu beigetragen. Ja, der Brexit. Auch Nicola Sturgeons Umgang mit der Pandemie. Und die natürlichen Ressourcen vor der Küste als Rückgrat für die Wirtschaft. Aber es ist vor allem eine Herzenssache. „Wir sind schlichtweg anders als die Engländer“, sagt ihr Verlobter Alan Rocks.

    Politik in Großbritannien ist alles andere als schwarz und weiß

    Der 26-Jährige hat nie etwas anderes als SNP gewählt. Und doch passt er nur schwer ins Muster. 2016 votierte er beim EU-Referendum für den Ausstieg Großbritanniens, „um das System zu erschüttern“, wie er sagt. Nun unterstützt er die Idee der schottischen Autonomie und wünscht sich, dass man nach der Unabhängigkeit wieder Mitglied der EU wird, „um das System zu erschüttern“. Auf ein Neues. Rocks schmunzelt. „Ergibt das Sinn?“, fragt er. Politik auf der Insel ist alles andere als schwarz und weiß.

    Gegenüber von Kirkcaldy, am südlichen Ufer des Firth of Forth, einem Meeresarm an der Ostküste, liegt an jenem Frühlingstag North Berwick in der Sonne. Der kleine Küstenort ist die Reinform des Bilderbuch-Schottlands. Ohne Corona würden sich hier tausende von Touristen tummeln. Lange Sandstrände. Hübsche Häuschen. Vorgelagerte Inseln. Spektakuläre Ausblicke. Und zum Mittagessen gibt’s frischen Hummer.

    Jack Dale ist Hummer-Fischer in North Berwick.
    Jack Dale ist Hummer-Fischer in North Berwick. Foto: Katrin Prribyl

    Möglicherweise stammt der Lobster von Jack Dale. Wenn frühmorgens der Wind weniger kräftig bläst, schippert der 71-Jährige mit einem seiner zwei Kutter raus und holt täglich 40 bis 50 Kilogramm Krustentiere aus dem Meer. Er trägt schwere Stiefel, Mütze und Handschuhe. Kalt ist es hier eigentlich immer. Anders als die Hochseefischer im nördlichen Landesteil beeinträchtigt der Brexit ihn und seine Küstenfischer-Kollegen kaum. Die zusätzliche Bürokratie für Export-Geschäfte haben sie an eine Firma ausgelagert. Dale versucht eh, den Fang lokal zu verkaufen, statt ihn auf den Kontinent zu liefern.

    Ein Fischer sagt: Eine Unabhängigkeit wäre "Selbstmord"

    Umso mehr treibt ihn die Debatte um ein erneutes Schottland-Referendum um. „Unabhängigkeit wäre ein komplettes Desaster“, sagt er. „Selbstmord.“ Völliger Realitätsverlust. Die ganze Bewegung ähnele einer Glaubensbewegung, findet er. Inklusive Nicola Sturgeon als Hohepriesterin. „Wir kämpfen jetzt schon mit genügend Ungewissheiten und Herausforderungen wie Klimawandel, Brexit und Meeresverschmutzung durch Plastik.“ Wer im produzierenden Gewerbe tätig sei, betrachte die Autonomie als Albtraum, unter anderem aufgrund der höheren Steuern, die drohen. Der Fischer wünscht sich deshalb junge Politiker, die unternehmerische Erfahrung mitbringen. „In Schottland haben wir schrecklich viele Leute, die nichts machen.“ Tatsächlich lockt die SNP viele junge Menschen an, die mit zunehmendem Alter und steigender Steuerlast oft wieder vom Freiheitstraum abkommen.

    Wer dieser Tage durch Schottland reist, trifft auf Verunsicherung. Abseits der beiden Lager – auf der einen Seite die unbeirrbaren Unabhängigkeits-Fanatiker, auf der anderen die absoluten Gegner – versuchen die Menschen, die schwierige Rechnung aufzustellen nach all den traumatischen Corona-Monaten: Ist es riskanter, im Königreich zu verbleiben – oder am Donnerstag die Nationalisten zu wählen, um dann möglicherweise nach einem Unabhängigkeitsreferendum in einem eigenständigen Schottland zu leben?

    Der Journalist David Leask weiß nicht, wie es ausgehen wird. „Es gibt zu viele Unbekannte.“ Eines aber weiß er: „Dies ist nicht eine Art nationalistische, populistische Bewegung à la Brexit oder Trump.“

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