Ein Grundsatz-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts entfacht eine neue Diskussion um die Grenzen der Sterbehilfe: Schwer und unheilbar kranke Patienten haben nach der Entscheidung der Richter in bestimmten Ausnahmesituationen das Recht auf den Zugang zu Arzneimitteln, die eine schmerzlose Selbsttötung ermöglichen. Allerdings kündigt die Politik Widerstand an, das Urteil umzusetzen.
Was hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden?
Bislang konnten staatliche Behörden den Patienten den Zugang zu tödlichen Medikamenten kategorisch verweigern, wenn dahinter eine Suizidabsicht steht. Das höchste deutsche Verwaltungsgericht entschied nun, dass die Abgabe entsprechender Medikamente im Falle schwerster unheilbarer Krankheiten in extremen Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden darf, wenn Betroffene einen Antrag beim Bundesamt für Arzneimittel stellen.
Die Richter verpflichten die Behörde, „in Extremfällen eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträglichen Leidenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen, und ihnen keine zumutbare Alternative – etwa durch einen palliativmedizinisch begleiteten Behandlungsabbruch – zur Verfügung steht“, heißt es im Urteil.
Welche Konsequenz hat das Urteil für die Regelung der Sterbehilfe?
An der Rechtslage ändert das Urteil wenig: Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten, passive Sterbehilfe durch das Abschalten von Apparaten und indirekte Sterbehilfe, bei der starke Medikamente Schmerzen lindern und als Nebenwirkung das Sterben beschleunigen, sind erlaubt. Auch Suizid ist nicht verboten, die Beihilfe unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Neu ist, dass das Urteil den Staat nun zur Abgabe tödlicher Medikamenten verpflichten könnte. Dagegen kündigt Gesundheitsminister Hermann Gröhe jedoch Widerstand an: „Staatliche Behörden dürfen nicht zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötung werden“, betont der CDU-Politiker. Sein Ministerium werde, „alle Möglichkeiten nutzen den Tabubruch staatlicher Selbsttötungshilfe zu verhindern“. Auch die Ärztekammern kritisieren das Urteil. Es dürfe keine Sterbehilfe per Verwaltungsakt geben. Stattdessen müsse die Palliativversorgung weiter verbessert werden.
Was verstehen die Richter unter „extremen Ausnahmesituationen“?
Im konkreten Fall ging es um eine Rechtsanwaltsgehilfin aus Braunschweig. Sie stürzte 2002 vor ihrem Haus so unglücklich, dass sie sich das Genick brach und vom Hals abwärts komplett gelähmt war. Sie musste rund um die Uhr künstlich beatmet werden, häufige Krampfanfälle bereiteten ihr starke Schmerzen. Die Frau empfand ihren Zustand als unerträglich und entwürdigend. Sie beantragte 2004 beim Bundesinstitut für Arzneimittel die Erlaubnis zum Kauf einer tödlichen Dosis des Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital zur Selbsttötung. Die Behörde lehnte ab. Ein Jahr später reiste die damals 55-Jährige in die Schweiz und nahm sich mithilfe eines Sterbehilfe-Vereins das Leben. Ihr Mann klagte gegen den Bescheid des Bundesinstituts durch alle Instanzen. 2012 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Witwer recht. Als Folge erklärten nun die Verwaltungsrichter, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel 2004 rechtswidrig gehandelt habe. (mit dpa, afp)