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Unterhaus-Wahlen: Ist Boris Johnson überhaupt noch zu schlagen?

Unterhaus-Wahlen

Ist Boris Johnson überhaupt noch zu schlagen?

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    Der britische Premierminister Boris Johnson gilt als knallharter Brexit-Vorkämpfer, als Unruhestifter und Clown. Dennoch beißt sich die Opposition die Zähne an ihm aus.
    Der britische Premierminister Boris Johnson gilt als knallharter Brexit-Vorkämpfer, als Unruhestifter und Clown. Dennoch beißt sich die Opposition die Zähne an ihm aus. Foto: Stefan Rousseau/PA Wire, dpa

    Der Tag, an dem Ali Milani Geschichte schreiben will, fällt auf einen Donnerstag. Am 12. Dezember stimmen die Menschen im Vereinigten Königreich über ein neues Parlament ab. Ali Milani will dann nichts weniger als den amtierenden Premierminister besiegen – indem er ihn als Abgeordneter für den Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip im Westen Londons ablöst und für die Labour-Partei ins britische Unterhaus einzieht.

    An diesem Samstagmorgen Ende November deutet allerdings nichts auf eine historische Sensation hin, als sich rund 40 Unterstützer Milanis vor dem Bürgerzentrum in Uxbridge, einem Vorort der Metropole, versammeln. Häuserwahlkampf. Uxbridge ist ein Ort der Mittelklasse, im guten Sinne: geringe Arbeitslosenquote, wirtschaftlich stabil, der Müll wird pünktlich abgeholt. Und es ist die Endstation der Piccadilly Line der Londoner U-Bahn, äußerster Rand der britischen Metropole also.

    Labour-Politiker Ali Milani will Geschichte schreiben.
    Labour-Politiker Ali Milani will Geschichte schreiben. Foto: Katrin Pribyl

    Die Aktivisten hoffen, dass am 12. Dezember hier auch Endstation für Boris Johnson sein wird, den umstrittenen Premierminister.

    Milani gegen Johnson - das ist wie David gegen Goliath

    Auf dessen Wunsch ist der Wahltermin vorgezogen worden. Johnson will die Gunst der Stunde nutzen – einer aktuellen Umfrage zufolge liegt seine Tory-Partei mit Abstand vorne. Umso sensationeller wäre es, wenn er – als Premierminister – seinen Wahlkreis nicht halten könnte. Glaubt man Milani, stehen die Chancen dazu keineswegs schlecht. Nach einem Besuch der Gegend erscheint es eher als ein Ding der Unmöglichkeit.

    Der Kampf Milani gegen Johnson: Da ist auf der einen Seite der 25-Jährige, der mit fünf Jahren aus dem Iran nach London gekommen und in einer Sozialwohnung aufgewachsen ist. Und der sich nun als "echter lokaler Abgeordneter" verkauft. Auf der anderen Seite ist der extrovertierte und um keinen Witz verlegene Boris Johnson. Und der hat einen gewaltigen Heimvorteil. Der Wahlkreis, den der 55-Jährige seit 2015 im Parlament vertritt, ist eine klassische Tory-Hochburg und galt deshalb stets als sicher. Wenngleich Johnson 2017 lediglich mit 5034 Stimmen Vorsprung gewann.

    Aus diesem Grund gehört der Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip zu jenen Zielen der Opposition, in denen bekannte Kabinettsmitglieder der Konservativen abgesetzt werden sollen. Nicht nur der Brexit-Vorkämpfer Johnson muss um seinen Sitz bangen, unter anderem auch auf die Bezirke des europaskeptischen Außenministers Dominic Raab sowie des Innenministers Sajid Javid haben es verschiedene Gruppen und Kampagnen abgesehen. Sie nutzen Slogans, die mal einen netteren Anstrich haben wie "UnseatBoris" (Setzt Boris ab), mal weniger nett klingen wie "#FckBoris". Es engagieren sich vor allem junge Menschen, die mit Umzügen, Feiern und Karnevalsstimmung Altersgenossen zum Wählen bewegen wollen. Kürzlich zog eine "#FckBoris"-Parade durch Uxbridge. Noch immer zeugen Überbleibsel auf den Gehsteigen und Aufkleber an den Laternen von der Straßenparty.

    Die Brexit-Debatte hat das Vereinigte Königreich zermürbt

    Labour-Mann Ali Milani ist durch den David-gegen-Goliath-Kampf zu einer kleinen Berühmtheit geworden. Und so herrscht beinahe so etwas wie Wahlkampf-Tourismus: Gegner des konservativen Johnson kommen aus anliegenden wie fernen Wahlkreisen, um Milani zu unterstützen. Die Frage ist dabei: Geht es ihnen um Pro-Ali oder eigentlich vielmehr um Anti-Boris?

    Unter den rund 40 Aktivisten vor dem Bürgerzentrum in Uxbridge ist auch eine Gemeinderätin aus Berwick-upon-Tweed im Norden Englands, die eigentlich ihre Tochter besucht. Wahlkampf als Familienausflug. Um ihren Hals baumelt ihr Labour-Mitgliedsausweis, am Kragen ihrer Jacke klebt ein roter Labour-Sticker. Ihre Tochter Anne steht etwas abseits der Gruppe und flüstert, dass sie nach zehn Jahren bei den Sozialdemokraten vor einem Jahr die Labour-Partei verlassen hat. "Ich bin schlicht desillusioniert von der Politik", sagt die 39-Jährige und erinnert an die ungezählten Parlamentsdramen um den Brexit. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union hat das Land zermürbt.

    Der Tross um Milani erhält jetzt ein kurzes Briefing seines Wahlkampfhelfers. Am Ende ruft dieser: "Es spielen sich in Uxbridge bemerkenswerte Szenen ab." Das soll die Botschaft für die ausströmenden Labour-Aktivisten sein. Doch an diesem Vormittag ist vor allem das Wetter bemerkenswert – bemerkenswert miserabel, selbst für britische Verhältnisse. Überhaupt: Statt besinnlicher Vorweihnachtsruhe herrscht Wahlkampf.

    Und die Bemühungen der Opposition scheinen bislang nicht fruchten zu wollen. Boris Johnson gilt bei seinen Kritikern seit Jahren als Unruhestifter, als Clown, als Politiker, der eine völlig eigene Auslegung der Wahrheit hat. Trotzdem deutet alles darauf hin, dass er für die Tories die absolute Mehrheit holen wird.

    Johnson gilt als Clown, dennoch beißt sich die Opposition die Zähne an ihm aus

    Wie kann das sein? Liegt es an der Schwäche der Opposition, die tief über den Brexit-Kurs zerstritten ist und mit Jeremy Corbyn den unbeliebtesten Labour-Chef aller Zeiten hat? "Die Konservativen haben gute Arbeit darin geleistet, so zu tun, als werde die Sparpolitik nun vorbei sein", erklärt Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen-Mary-Universität in London. Genauso hätten sie es geschafft, den Menschen zu verkaufen, dass nur mit ihnen an der Spitze der Brexit vollzogen würde.

    Jeremy Corbyn ist Vorsitzender der Labour-Partei in Großbritannien - und damit Boris Johnson‘s härtester Gegner.
    Jeremy Corbyn ist Vorsitzender der Labour-Partei in Großbritannien - und damit Boris Johnson‘s härtester Gegner. Foto: Dominic Lipinski/PA Wire, dpa

    Es ist der Wahlkampfschlager von Boris Johnson, den er mantra-artig und – gerne auch ungefragt – bei jeder Gelegenheit wiederholt. Etwa: Wie will er die versprochenen 20000 Polizisten in so kurzer Zeit ausbilden? "Wir werden den Brexit durchziehen." So geht das ununterbrochen.

    Aber es kommt beim Brexit-frustrierten Volk an. Das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen, das noch vor nicht allzu langer Zeit unter anderem als Verrat an der nordirischen Unionistenpartei DUP betrachtet worden wäre, verkaufen die Tories inzwischen als "fantastischen Deal für das Königreich, für den Johnson gepriesen werden sollte", so Bale. Verkehrte Welt, wieder einmal.

    Dabei ist auch Johnson nicht beliebt bei den Briten, aber eben weniger unpopulär als sein Widersacher Jeremy Corbyn. "Es ist kein Schönheitswettbewerb, es ist ein hässlicher Wettkampf", sagt denn auch Politologe Tim Bale. Die Leute hätten nur wenig Vertrauen in die beiden Männer, aber könnten sich Johnson zumindest als Premierminister vorstellen – was vor allem daran liege, dass Boris Johnson aktuell Premierminister ist. Hinzu komme, dass sich die Tories auf fünf bis sechs Versprechen beschränken, die sie den Menschen auf allen Kanälen einhämmerten. Während das Labour-Wahlprogramm "mit 1001 Zusagen gefüllt ist, die die Wähler nicht unbedingt erreichen".

    Statt vorweihnachtlicher Ruhe herrscht Wahlkampf

    In Uxbridge starten Ali Milani und sein Team in den Häuserwahlkampf – in der Bridge Road, wo sich zum Verwechseln ähnliche Backsteinbauten aneinanderreihen. Erstes Haus rechts, die Nummer 102 steht in goldenen Lettern am Tor, Milani klopft. Ein treuer Labour-Wähler öffnet, reckt den Daumen nach oben und ruft Milani nach kurzem Small Talk zu: "Viel Glück! Du wirst es brauchen."

    Tatsächlich bahnt sich eine krachende Niederlage an. Nicht allein, dass Corbyn die Partei weit nach links – für viele zu weit – gerückt hat, auch die Kritik an seinem Umgang mit Antisemitismus-Vorwürfen wird täglich lauter. Erst kürzlich griff der britische Chef-Rabbiner Ephraim Mirvis den linken Oppositionsführer scharf an. Von der Spitze der Partei herab fließe Antisemitismus wie ein Gift von oben nach unten. Jeder möge sich seine Wahlentscheidung genau überlegen. Es handle sich um ein "Führungsversagen", das die Frage aufwerfe, ob Corbyn für ein hohes Amt geeignet sei, so Mirvis. Viele andere stimmten ihm zu.

    Der Vorwurf, unter Jeremy Corbyn würde ein linker Antisemitismus bei Labour toleriert, ist nicht neu, genauso wenig wie die Reaktion des Oppositionsführers darauf. Während eines Interviews wurde der 70-Jährige vor wenigen Tagen gefragt, ob er sich für den Antisemitismus in seiner Partei entschuldige. Corbyn tat es nicht, auch nicht nach der vierten Nachfrage. Er beteuerte stattdessen, Labour verurteile strikt jedweden Rassismus und Antisemitismus. Jüdische Mitglieder wenden sich dennoch in Scharen von Labour ab, Abgeordnete verlassen verbittert die Partei, Wähler schütteln den Kopf.

    Die aktuelle Umfrage

    Am 12. Dezember sind die britischen Unterhauswahlen.

    Laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Zeitung Times würden die konservativen Tories von Premierminister Boris Johnson 359 der 650 Sitze gewinnen.

    Die oppositionelle Labour Party um Jeremy Corbyn erhielte nur 211 Sitze – und damit 51 weniger als bei der Wahl vor zwei Jahren.

    Die Schottische Nationalpartei (SNP) käme auf 43 Sitze, die Liberaldemokraten auf 13.

    Und dann wäre da noch das wichtigste Thema der britischen Nachkriegszeit: der Brexit eben. Nur: Corbyn weigert sich bis heute, sich auf eine der beiden Seiten – Leave oder Remain – zu schlagen. Die EU verlassen oder bleiben? Corbyn und seine Partei versprechen Wählern einen neuen Deal mit Brüssel und dann eine erneute Volksabstimmung, bei der auch der EU-Verbleib auf dem Zettel stehen soll. Ist Corbyn beim Häuserwahlkampf ein Problem? "Es geht nicht um Corbyn", antwortet Milani gereizt. Die Menschen sorgten sich vielmehr um Bildung, die Gesundheitsversorgung, Kriminalität. Eine Stunde später und rund 100 Türen weiter ist klar: Es geht eben doch sehr viel um Jeremy Corbyn.

    "Wie Pest oder Cholera": Labour-Chef Corbyn oder Tory-Chef Johnson?

    "Ich habe immer Labour gewählt, aber würde niemals für Corbyn stimmen", sagt eine Frau, die sich als Audette vorstellt und die Auswahl zwischen Tory-Chef Johnson und dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Labour Party als "Wahl zwischen Pest oder Cholera" bezeichnet. Ali Milani drückt ihr trotzdem einen Zettel mit seinem Konterfei in die Hand. Er wird im Altpapier landen.

    Die 58-jährige Audette sagt: "Boris ist das kleinere Übel. Er kann ein Idiot sein, aber er ist nicht dumm." Corbyn dagegen sei ein Kommunist und gefährlich. Audette findet auch den Brexit gut, wie viele in dem Wahlkreis, in dem 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt hat. Was schon deshalb ungewöhnlich ist, weil Uxbridge im Grunde wie London ist, das Kerngebiet der Pro-Europäer. Zu ihnen zählen die Liberaldemokraten genauso wie der Großteil der Labour-Fraktion. Aber sie haben es in den letzten Wochen nicht geschafft, eine Allianz zu bilden, die taktisches Wählen ermöglichen würde, um auf den letzten Metern doch noch mithilfe eines zweiten Referendums einen Verbleib in der EU zu erreichen.

    Die proeuropäischen Liberaldemokraten schimpfen auf Labour. Labour schimpft auf die Liberaldemokraten. Und Boris Johnson freut sich über die parteipolitischen Machtkämpfe in der Opposition.

    An diesem grauen Samstagnachmittag wirbt auch er um Aufmerksamkeit, nur wenige Kilometer von Milani entfernt. Zusammen mit seinem Vater, der durch das britische Pendant des "Dschungelcamps" berühmt wurde. An Türen klopft er lediglich für die ihn begleitenden Kameras. Hier ein paar Selfies, dort ein paar Handshakes. Johnson gefällt sich in der Rolle des Politstars. Und er scheint sich seines Sieges sicher zu sein, obwohl er weder hier lebt noch ein Büro hat. Zwar heißt es im Internet, die Konservativen seien in der Gegend vertreten. Wer aber an jener schmucklosen Hintertür eines Backsteinbaus klingelt, wird per videoüberwachter Sprechanlage abgewiesen. Fragen unerwünscht. Der Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip ist für Johnson Mittel zum Zweck, anders als sonst üblich auf der Insel, wo die Kandidaten für gewöhnlich in ihrem Wahlkreis verankert sind. Aber bei Boris Johnson laufen die Dinge nun einmal anders. Dieser Tage: gut.

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