Erst die Eskalation zwischen Belarus und Polen, nun die Ukraine: Im Osten Europas wächst die Kriegsangst. Vor einem zweitägigen Treffen der Nato-Außenminister im lettischen Riga warnt der deutsche Ressortchef Heiko Maas am Dienstag: „Für jede Form der Aggression müsste Russland einen hohen Preis zahlen.“ Zuvor hatte die US-Regierung angesichts eines russischen Truppenaufmarschs in der Grenz-region einen „Generalangriff auf die Ukraine“ nicht mehr ausgeschlossen.
Selenskyi fürchtet einen von Moskau gesteuerten Putsch
Unterdessen schlägt in Kiew Präsident Wolodymyr Selenskyj Alarm. Sein Geheimdienst habe ihm Informationen über von Moskau gesteuerte Putschpläne vorgelegt: „Anfang Dezember soll in unserem Land ein Umsturz stattfinden.“ Das ist vor allem deshalb brisant, weil der Kreml die Maidan-Revolution von 2014 bis heute als Staatsstreich wertet und damit auch die Krim-Annexion und den separatistischen Krieg im Donbass rechtfertigt.
Doch wie ernst ist die Lage wirklich? Die Führung in Moskau weist die Warnungen aus Kiew, Berlin und Washington als „Propaganda“ zurück und kritisiert seinerseits Nato-Manöver im Schwarzen Meer. Zugleich dementiert der Kreml den Aufmarsch keineswegs: „Russland hat das Recht, seine Streitkräfte auf seinem Territorium nach eigenem Ermessen zu bewegen.“ Ähnliche Sätze waren in Moskau bereits im Frühjahr gefallen. Damals hatte das russische Militär schon einmal invasionsfähige Truppen im Grenzgebiet zusammengezogen. Nach wochenlanger Unsicherheit erklärte Präsident Wladimir Putin: „Sollte jemand unsere roten Linien überschreiten, werden wir schnell und hart reagieren.“ Kurz darauf zogen sich die Truppen zurück. „Alles nur eine Machtdemonstration, um den neuen US-Präsidenten Joe Biden zu testen“, lautete damals eine verbreitete Einschätzung im Westen.
Doch nun sind die Truppen wieder da. Satellitenbilder belegen, dass die russische Armee rund 1200 Panzer und moderne Angriffswaffen im Westen des Landes zusammengezogen hat. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nennt die Zahl von 115.000 Soldaten, die Russland im Dreiländereck mit Belarus und der Ukraine stationiert habe. Mit dem Aufmarsch stellt sich auch die Frage nach Putins Plänen neu. Denn um einen Biden-Test wird es sich kaum handeln.
Die Ukraine hätte keine Chance, einen russischen Angriff abzuwehren
Einig sind sich westliche Beobachter und Beobachterinnen, dass Russland die Mittel für eine Invasion hätte . Die USA haben die ukrainische Armee zuletzt zwar mit Panzerabwehrraketen aufgerüstet. Das ändere am Kräfteverhältnis aber wenig, erklärt der US-Militär-experte Matthew Schmidt: „Putins Panzer zu stoppen, bringt nichts. Wenn der Kreml den Donbass oder Kiew erobern will, werden selbst US-Waffen das Unvermeidliche nur verzögern.“ Unter dem Strich, so Schmidt, stehe eine klare Erkenntnis: „Die Ukraine ist für die USA bei weitem nicht so wichtig wie für Russland, und das wissen beide Seiten.“
Auch in Brüssel, Paris und Berlin geht niemand davon aus, dass die Nato aktiv in einen neuen Ukraine-Krieg eingreifen würde. Eine militärische Konfrontation mit Russland wegen des Donbass werde es nicht geben, lautet das einhellige Urteil von Sicherheitspolitikern und Militärexpertinnen. In Kiew wiederum ist die Angst vor einer Invasion vor allem deshalb so groß, weil sich die geopolitische Lage im postsowjetischen Raum zuletzt noch einmal deutlich verschärft hat. Besonders die Massenproteste in Belarus nach der Wahl 2020 waren für die Kremlstrategen ein Alarmsignal.
Putin fürchtet eine Entwicklung wie in Belarus
Im Westen wurde die Wirkung auf Russland unterschätzt. Die Moskauer Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann wies schon früh auf eine simple, aber für den Kreml höchst beunruhigende Rechnung hin: „Das belarussische 2020 ist das russische 2024.“ In gut zwei Jahren muss sich Putin zur Wiederwahl stellen. Und er wäre 2024 ähnlich lange im Amt, wie es der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko 2020 war. Es war deshalb kein Zufall, dass der Kreml Lukaschenko unterstützte und fast zeitgleich den Kampf gegen die Opposition im eigenen Land deutlich verschärfte. Den Auftakt machte der Giftanschlag auf den populärsten Putin-Kritiker Alexei Nawalny im August 2020, nur elf Tage nach der Wahl in Belarus. Im Winter ließ Putin die Proteste gegen Nawalnys Inhaftierung brutal niederschlagen. Es folgten der Truppenaufmarsch im Donbass und eine militärische Beinahe-Eskalation vor dem Nato-Manöver „Sea Breeze“ im Schwarzen Meer. Damals warfen russische Kampfjets Bomben vor den Bug eines britischen Kriegsschiffs.
Die stärksten Kopfschmerzen bereiten Beobachtern im Westen vorerst nicht Bomben und Panzer, sondern schriftliche Einlassungen aus der Feder Putins. Im Juli dieses Jahres veröffentlichte der Präsident einen Aufsatz „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Darin spricht er den ostslawischen Nachbarn in Belarus und vor allem in der Ukraine eine eigene Nationalkultur und faktisch auch den Anspruch auf eine eigene Staatlichkeit ab. Beide Völker seien zur Zeit des Zarenreiches „in der großen russischen Nation aufgegangen“, schreibt Putin. In einem ähnlichen Sinn hatte der Präsident die Annexion der Krim 2014 als „Wiedervereinigung“ bezeichnet. In seinem Essay warnt Putin vor der Schaffung eines vom Westen gesteuerten „Anti-Russlands“ in der Ukraine. Das werde er nicht zulassen. Und schließlich folgt die Warnung: „Allen, die [in Kiew] eine solche Politik verfolgen, sage ich, dass sie auf diese Weise ihr Land zerstören.“