Damals, als Udo Di Fabio gerade Verfassungsrichter geworden war, da ging es immer mal wieder um seine Herkunft, um seine Sozialisation in einer Einwandererfamilie. Di Fabios Großvater war Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Abruzzen nach Duisburg gekommen. Der Nachkomme verarmter Landadliger heuerte als Stahlarbeiter bei Thyssen an, seitdem lebte die Familie im Ruhrgebiet. Di Fabio war bei seinem Antritt in Karlsruhe 1999 also nicht nur der jüngste Verfassungsrichter, sondern auch der erste Nachfahre eines Gastarbeiters im Zweiten Senat.
Heute ist die Herkunft des Spitzenjuristen wieder ein Thema, ein kleines zumindest. Denn Di Fabio hat ein rechtliches Gutachten zur aktuellen Flüchtlingskrise vorgelegt, einem Thema also, bei dem er auch aufgrund seiner Familiengeschichte als völlig unbefangen gilt. Umso schwerer wiegt seine Einschätzung: Der Jurist ist der Meinung, dass die unkontrollierte Einreise von Asylbewerbern nach Deutschland verfassungsrechtlich nicht gedeckt ist. Die Bayerische Staatsregierung, die das Schriftstück in Auftrag gegeben hat, schließt eine Verfassungsklage gegen den Bund wegen der offenen Grenzen bereits nicht mehr aus.
Di Fabio: unkontrollierte Einreise verfassungsrechtlich nicht gedeckt
Mit seinem Gutachten könnte Di Fabio nun also die Kanzlerin in Bedrängnis bringen. Dabei war ihm in der Vergangenheit oft eine gedankliche Nähe zu Angela Merkel nachgesagt worden – in einem Interview mit der Zeitung Die Welt lobte er im Herbst noch den „kühlen Kopf“ der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise. Und auch sonst gibt es die eine oder andere Schnittmenge: Der 61-Jährige gilt als konservativ, als Bildungsbürger, dem Werte wie Familie, Religion, Staat und Leistung wichtig sind. Und doch ist er kein Konservativer durch und durch, ist eben auch ein Arbeiterkind, das die Sozialdemokratie im Ruhrgebiet quasi von klein auf eingeatmet hat.
Zehn Jahre lang arbeitete er als Verwaltungsbeamter in Dinslaken, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholte, Jura und Soziologie studierte und in beiden Fächern promovierte. 1994 trat er seine erste Professorenstelle in Münster an, fünf Jahre später wurde er auf Vorschlag von CDU/CSU Richter am Bundesverfassungsgericht.
Der Jurist Di Fabio hat auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt
In Karlsruhe galt Di Fabio schnell als würdiger Nachfolger Paul Kirchhofs, als prägender Verfassungsrichter, kreativ und blitzgescheit, Autor vieler Bücher und immer wieder auch präsent in den Medien. Als Europa-Experte war er Berichterstatter in vielen politisch brisanten Verfahren: zum Zuwanderungsgesetz, zum NPD-Verbot oder auch zum Lissabon-Vertrag.
2011 schied Di Fabio aus dem Zweiten Senat aus, seitdem lebt er wieder in Bonn, wo seine Familie wohnt und er Öffentliches Recht lehrt. Ruhig wird es um den Topjuristen allerdings nicht. Dafür dürfte nicht zuletzt auch seine neue Rolle als Rechtsexperte in der Flüchtlingskrise sorgen.