Mehr als hundert Autos sind an diesem Morgen schon an ihnen vorbeigefahren. „Einer hat tatsächlich angehalten und mit uns gesprochen“, erzählt Sarah Laskie. Die übrigen Reaktionen fielen weniger freundlich aus: Wildes Hupen und gesenkte Daumen gehörten zu den freundlicheren Gesten, mit denen Laskie und ihre beiden Mitstreiterinnen, alle in ihren Sechzigern, bedacht wurden. Öfter sahen sie einen ausgestreckten Mittelfinger. Oder gleich zwei.
Aber was soll man auch erwarten, wenn man seinen weißen Minivan mit einem selbst gemalten „Joe“-Plakat und einem Schild, das auf die 180.000 amerikanischen Covid-19-Toten hinweist, provokativ quer zur Ausfallstraße des konservativen Örtchens Darien parkt – und das ausgerechnet an diesem Augusttag, an dem Vizepräsident Mike Pence in der „Heimatstadt des Mais-Fests“ sprechen wird?
Gerade braust wieder ein schwerer Pick-up mit einer Trump-Fahne an den Frauen vorbei. „Four more years!“ (Noch mal vier Jahre!), brüllt die Beifahrerin durchs offene Fenster. Jetzt, nur noch zwei Monate vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl, beginnt die heiße Phase des Wahlkampfs. Donald Trump gegen Joe Biden, Republikaner gegen Demokraten. Und noch so vieles mehr.
Die Stimmung ist aggressiv. Trump-Fans zeigen Biden-Anhängern den Mittelfinger
Fast 60 Prozent haben in Darien, im äußersten Süden des Bundesstaats Wisconsin, vor vier Jahren für Trump gestimmt. „Die Leute haben ihren Glauben“, weiß Laskie, „aber wir wollen deutlich machen, dass nicht alle auf deren Seite sind.“ Die Aggressivität, die ihr entgegenschlägt, überrascht sie trotzdem. Es ist eine Szene nur und doch steht sie für mehr als einen Einzelfall: Die USA wirken zerrissener denn je.
Mit schärfsten gegenseitigen Angriffen haben Republikaner und Demokraten bei ihren Parteitagen die Stimmung im ganzen Land aufgeheizt. Die Zahl der Corona-Infizierten hat die Sechs-Millionen-Marke durchbrochen, täglich kommen rund 40.000 neue Fälle hinzu. Mehr als 30 Millionen Amerikaner haben keinen Job. Polizeigewalt und tödliche Übergriffe rechter Milizionäre wühlen die eine Hälfte des Landes auf. Geplünderte Geschäfte und brennende Autos schockieren die andere.
„Mit all diesem Chaos und dieser Spaltung fühlt sich Amerika nicht mehr wie ein Land an“, hat der einstige demokratische Präsidentschaftskandidat Pete Buttigieg kürzlich gesagt. Für das, was er meint, finden sich zahlreiche Beispiele. In Portland, im Westen der USA, feuerten hunderte Trump-Anhänger Paintballs und Pfefferspray auf linke Demonstranten. In der Hauptstadt Washington dagegen bedrängten Aktivisten der Black-Lives-Matter-Bewegung unbeteiligte Restaurantbesucher und nötigten sie zum Ausstrecken der revolutionären Faust. Die Bewegung, auf Deutsch „Schwarze Leben zählen“, richtet sich gegen die Benachteiligung Schwarzer, gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus. Sie organisiert Proteste. Manche ihrer Anhänger befürworten das Mittel der Gewalt.
Ein auf Ausgleich bedachter Präsident würde versuchen, durch Reden und symbolische Gesten Brücken zwischen den gegnerischen Lagern zu bauen. Trump tut das nicht.
Entgegen Bitten des Bürgermeisters und des Gouverneurs fuhr er am Dienstag nach Kenosha im Südosten Wisconsins. Die Stadt am Michigansee ist zu trauriger nationaler Berühmtheit gelangt, seit dort vor zehn Tagen ein Polizist ohne erkennbaren Grund einem Afroamerikaner siebenmal in den Rücken schoss. Der 29-Jährige ist seither gelähmt. Seine Familie traf Trump bei der Kurzvisite nicht, wohl aber Vertreter der Polizei, die er für ihre Arbeit lobte. Die mehrheitlich friedlichen Demonstrationen und die gewalttätigen Krawalle einer Minderheit nach den tragischen Schüssen stellte er auf eine Stufe: „Das war kein friedlicher Protest. Das war inländischer Terrorismus“, sagte er.
Trump weicht kritischen Fragen aus
Vor seinem Abflug war Donald Trump bereits von einem Reporter gefragt worden, ob sein Besuch nicht die „Heilung“ der Stadt störe. „Das kann auch den Enthusiasmus erhöhen“, antwortete er darauf etwas verworren.
Das also ist die Ausgangslage für die Endphase des Wahlkampfs. In die wird er endgültig nach dem kommenden Labor-Day-Wochenende eintreten. Wie außergewöhnlich das Rennen ums Weiße Haus dieses Mal ist, hat sich schon bei den Conventions, den Parteitagen, gezeigt, die ohne die üblichen 20.000 Delegierten, VIP-Gäste und Medienvertreter stattfanden. Auf ihnen wurde auch deutlich, wie unterschiedlich die Republikanische und die Demokratische Partei mit der Corona-Krise umgehen.
Bei den Republikanern, deren Idol Trump das Virus von Anfang an kleingeredet hat, war die Pandemie allenfalls ein Vergangenheitsthema. Demonstrativ hielt der Präsident seine Abschlussrede vor 2000 geladenen Gästen ohne Abstand und Maske. Die Demokraten hingegen widmeten sich ausgiebig den Opfern der Gesundheitskrise und ihren gewaltigen Herausforderungen. Seine Ansprache hielt Präsidentschaftskandidat Joe Biden in einer leeren Turnhalle seiner Heimatstadt Wilmington.
Den Sommer über hat sich der ehemalige Obama-Vize Biden kaum aus seinem Haus im Bundesstaat Delaware herausbewegt. Seine Botschaften versandte er per Livestream und Video übers Internet. Biden will das Versagen Trumps in der Corona-Krise als Sinnbild für die Untauglichkeit des früheren Reality-TV-Stars für das Präsidentenamt in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes rücken. Also darf er sich nicht angreifbar machen. Seine Treffen mit Spendern finden per Videokonferenzschaltung statt. Bei seinen eher spärlichen öffentlichen Auftritten trägt der 77-Jährige stets einen Mund-Nasen-Schutz.
Ein richtiges Verhalten, auch mit Blick auf die Umfragen. Zwei Drittel der Amerikaner sind wegen der Pandemie beunruhigt, fast genauso viele sind unzufrieden mit Trumps Krisenpolitik. Trotzdem ist der Vorsprung, den Biden vor Trump hatte, seit den Parteitagen von neun auf sechs Punkte geschrumpft. Zwar warnt Daten-Experte Nate Silver vor voreiligen Schlüssen und sagt: „Die Geschichte entwickelt sich noch.“ Aber Trumps „Law and Order“-Kampagne, mit der er das unangenehme Corona-Thema überlagern will, scheint nicht wirkungslos zu bleiben. Angesichts der Fernsehbilder von zerstörten Geschäften und verrammelten Ladenlokalen in Portland, Kenosha oder Milwaukee bröckelt seit Wochen die anfangs überwältigende Unterstützung für die immer wieder aufflammenden Anti-Rassismus-Proteste.
Joe Biden steht unter Druck. Was ist die richtige Wahlkampf-Strategie?
Trump geht auch mit diesen auf Stimmenfang. „Sie werden nicht sicher sein in Joe Bidens Amerika“, behauptete er beim Parteitag der Republikaner. Am Montag sprach er in seinem Lieblingssender Fox News von einer „Revolution“, die gerade im Gange sei: „Joe Biden wird von anderen kontrolliert. Von Leuten, die im dunklen Schatten stehen. Leute, von denen Sie nie gehört haben.“ Mehr könne er derzeit nicht sagen. Nur so viel: Neulich sei ein ganzes Flugzeug voller schwarz gekleideter „Schlägertypen“ nach Washington geflogen...
Fragen nach dem Problem eines strukturellen Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft und der Polizei weicht Trump aus. Er vermeidet jede Verurteilung der Gewalttaten seiner eigenen Anhänger oder Verbündeten: Der 17-jährige rechte Milizionär, der in Kenosha mit einem Schnellfeuergewehr zwei unbewaffnete Demonstranten erschoss und wegen Mordes angeklagt ist, handelte laut Trump in Notwehr. Die rechten Schlägertrupps, die in Portland marodierten, sind für ihn „großartige Patrioten“.
Kenosha. Portland. „Das sind nicht Bilder aus einem imaginären Joe-Biden-Amerika der Zukunft. Das sind Bilder aus Donald Trumps heutigem Amerika“, hält ihm sein Herausforderer entgegen. Doch die Zuspitzung des Konflikts bringt auch die Demokraten und ihren Kandidaten Biden in Bedrängnis. Trump hat die afroamerikanischen Wähler in den Städten längst abgeschrieben. Seine Botschaft zielt auf die Weißen in den Vorstädten. Die aber braucht auch Joe Biden, um ins Weiße Haus zu kommen. Biden befindet sich in einem Dilemma: Seine potenziellen linken Unterstützer erwarten eine Fokussierung auf das Thema „Polizeigewalt“. Die Wähler in der Mitte wollen keine brennenden Geschäfte.
Biden zögerte lange. Am Montag begab er sich schließlich auf Trumps Terrain. In einem Stahlwerk der einstigen Industriestadt Pittsburgh trat er ans Rednerpult einer Halle, in der nur eine Handvoll Journalisten saß. Knappe 14 Minuten lieferte er ihnen eine ungewohnt harte Abrechnung mit Trump, den er mit einer „toxischen Substanz“ verglich, die die Gesellschaft vergifte. Er distanzierte sich zudem von jeder Gewalt: „Randale ist kein Protest. Plünderungen sind kein Protest. Brandstiftungen sind kein Protest. Wer das tut, muss bestraft werden.“ Dass er die Mehrheit der Polizisten ausdrücklich „gute, anständige Leute“ nannte, stieß allerdings vielen Black-Lives-Matter-Aktivisten übel auf. Biden wollte Wähler im Rostgürtel und im Mittleren Westen erreichen. Welchen Spagat er wahltaktisch bewältigen muss, beschrieb der frühere demokratische Gouverneur von Pennsylvania in der Washington Post, Ed Rendell. Man sei besorgt, „dass Moderate sagen könnten: Ich hasse Donald Trump. Aber ich brauche Sicherheit. Also halte ich meine Nase zu und stimme doch für ihn“.
Biden plant nun Reden in Michigan, Pennsylvania und Arizona. Am Donnerstag will er auch Wisconsin besuchen – jenen Bundesstaat, den Trump vor vier Jahren denkbar knapp mit rund 20.000 Stimmen Vorsprung gewann. Biden setzt auf die sogenannten Swing States, jene Staaten, in denen mal Republikaner, mal Demokraten vorne lagen. Doch auch in ihnen sind die Fronten verhärtet.
Das konnte man am Dienstag am Rande der Trump-Visite im Bundesstaat Wisconsin beobachten. Da standen sich in der Innenstadt von Kenosha zwei Gruppen von Demonstranten gegenüber. „Black Lives Matter“, brüllten die einen. „Blue Lives Matter“, skandierten die anderen, die Trump-Anhänger. Sie nahmen Bezug auf einen Slogan, der auf die blaue Uniformfarbe der Polizei anspielt. Es sah nicht danach aus, als würde irgendjemand seine Meinung ändern wollen. Oder überhaupt Interesse an einem sachlichen Gespräch haben.
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