Manchmal kann Politik selbst beim Zuschauen wehtun. Da sitzt Joe Biden auf der Bühne des South Court Auditoriums im Weißen Haus: Eine schwarze Maske verdeckt Mund und Nase, der linke Hemdsärmel ist hochgekrempelt. Gleich wird der Präsident der USA vor laufenden Kameras seine Auffrischungsimpfung gegen das Coronavirus bekommen. Wenige Meter entfernt drängen sich Reporter, Journalistinnen und Fotografen, die über das Ereignis berichten.
Während sich eine Krankenschwester am Oberarm des 78-Jährigen zu schaffen macht, werfen ihm die Journalisten Fragen zu. Erst erkundigen sie sich höflich nach seinem gesundheitlichen Befinden. Als die medizinische Fachkraft die Spritze ansetzt, wird es ungemütlich. Was denn nun aus seinem Investitionspaket werde, will eine Berichterstatterin wissen. „Wir kriegen das hin“, antwortet Biden tapfer. „Was steht für Ihre Agenda auf dem Spiel?“, hakt ein Kollege nach. „Der Sieg“, erwidert der Politiker ebenso knapp wie vieldeutig.
Bidens Umfragewerte sind eingebrochen
Neun Monate nach dem Amtsantritt geht es für den Mann, der Amerika aus dem Albtraum der Trump-Jahre befreit hat, um alles oder nichts. Durch eigene Fehler, unglückliche Umstände und Pech ist zuletzt vieles schiefgegangen. Die Umfragewerte des Demokraten sind eingebrochen. Seine Partei blockiert sich selbst. Die Impfszene vor zwei Wochen, als er mit einem Nadelstich und skeptischen Zurufen malträtiert wird, wirkt wie ein Sinnbild seiner Lage. „Willkommen im Gewittersturm!“, hat die Nachrichtenseite Politico getitelt, und die New York Times fragt schon skeptisch: „Kann sich Joe Biden erholen?“
Die Antwort auf diese Frage hängt ganz wesentlich von einem monumentalen Gesetzespaket ab, das der Präsident in zwei Teilen durch den Kongress boxen will. Sein Infrastrukturplan mobilisiert Ausgaben von einer Billion Dollar für Straßen, Brücken, Stromnetze und Elektro-Ladestationen. Der Sozial- und Klimaplan verspricht über eine Laufzeit von zehn Jahren 3,5 Billionen Dollar für kostenlose Kinderbetreuung, den freien Zugang zu öffentlichen Hochschulen, eine Ausweitung der Krankenversicherung Obamacare und den Umstieg auf erneuerbare Energien. Das sind selbst für amerikanische Verhältnisse schwindelerregende Summen. Ökonomisch würde das Mega-Paket die Konjunktur unter Hochspannung setzen und Millionen Jobs schaffen. Politisch könnte es Biden als Reformer und Anwalt der Mittelklasse in den Geschichtsbüchern einen Platz neben seinem Idol Franklin D. Roosevelt verschaffen.
Doch seit Wochen geht beim zentralen Gesetzesprojekt des Präsidenten nichts voran. Auch anderswo hat der Nimbus des erfahrenen Regierungsprofis heftige Kratzer bekommen: Die Corona-Pandemie legte im Sommer mit täglich mehr als 100.000 Neuinfektionen und fast 2000 Toten ein düsteres Comeback hin. Der Afghanistan-Abzug geriet zum chaotischen Desaster. Am Rio Grande malträtierte die Grenzpolizei haitianische Migranten ähnlich brutal wie zu Trump-Zeiten. Zwar konnte Ende der vergangenen Woche die drohende Staatspleite der USA noch abgewendet werden. Doch wurde das Problem nur auf Dezember vertagt. Bis dahin hat der Kongress die Schuldengrenze vorübergehend erhöht.
Nicht alles ist Bidens Schuld. Der Präsident hat ein extrem polarisiertes Land übernommen, dessen eine Hälfte bis heute seinen amtlich vielfach beglaubigten Wahlsieg anzweifelt. Die Republikaner sind zu einer Sekte verkommen. Ihre Gouverneure hintertreiben Masken- oder Impfgebote zur Corona-Eindämmung und ihre Kongressvertreter nutzen die Macht alleine zur Obstruktion. In der Bevölkerung aber schadet deren zynische Destruktionsstrategie vor allem Biden: Nur noch eine Minderheit von 44 Prozent der Amerikaner ist mit seiner Arbeit zufrieden.
Donald Trump wird immer noch fanatisch gefeiert
Derweil verblasst auf fatale Weise der dunkle Schatten seines Vorgängers Donald Trump. Vor tausenden fanatischen Fans im ländlichen Bundesstaat Iowa zeichnete der 75-Jährige am Samstag erneut ein apokalyptisches Zerrbild des Landes, das von blutrünstigen Gangs kontrolliert, der Inflation erdrosselt und China ausgenommen werde. „Trump hat gewonnen! Trump hat gewonnen“, skandierte die Menge. „Ja, das hat er. Vielen Dank!“, erwiderte der narzisstische Möchtegern-Autokrat. Genüsslich spielt er mit der Andeutung einer erneuten Präsidentschaftskandidatur. Nach neuesten Umfragen möchten zwei Drittel der republikanischen Wählerinnen und Wähler Trump weiter in einer führenden Rolle sehen.
Das Fieber der amerikanischen Gesellschaft, das Biden eigentlich senken wollte, droht wieder zu steigen. „Bei diesem Gesetz geht es nicht um links gegen rechts oder irgendetwas anderes, das die Amerikaner gegeneinander aufbringt“, wirbt der Präsident daher derzeit eindringlich für sein Investitionspaket. Mit Pragmatismus und Bereitschaft zum Kompromiss will er beweisen, was Politik bewirken kann, wenn sie nicht auf Hass und Hetze setzt: Sauberes Trinkwasser, gestopfte Schlaglöcher und ein schnelleres Internet würden das Leben aller Amerikaner konkret verbessern.
Seine Partei ist der gefährlichste Gegner für Joe Biden
Tatsächlich sieht eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung das Vorhaben positiv. Nur müsste es endlich umgesetzt werden. Paradoxerweise sind dabei nicht die Republikanerinnen und Republikaner Bidens gefährlichste Gegner, sondern seine eigene Partei, deren Flügel sich wechselseitig paralysieren.
Die Ausgangslage ist heikel genug: Das Paragrafenwerk braucht die Zustimmung sowohl des Repräsentantenhauses wie des Senats. Die Mehrheiten sind hauchdünn: Biden kann sich im Parlament allenfalls drei und in der zweiten Kammer keinen einzigen Abweichler in den eigenen Reihen erlauben. Doch sowohl eine konservative demokratische Senatorin, Kyrsten Sinema aus Arizona, und ein weiterer konservativer Demokrat, Joe Manchin aus West Virginia, stellen sich quer. Sie blockieren das 3,5-Billionen-Dollar-Sozialpaket, das ihnen zu teuer ist. Im Gegenzug halten nun linke Abgeordnete im Repräsentantenhaus ihre Zustimmung für das Infrastrukturgesetz zurück.
Vergeblich versuchte Parlamentssprecherin Nancy Pelosi vor gut einer Woche, den Gordischen Knoten zu durchschlagen: Die gewiefte Taktikerin setzte kurzerhand eine Abstimmung über den Infrastrukturplan an. Doch die progressiven Abgeordneten rebellierten und beharrten auf einem vorherigen Deal zum Sozialpaket. Stunde um Stunde verging. Kurz vor Mitternacht musste Pelosi einlenken und das Votum vertagen. Tags darauf fuhr Biden persönlich zum Kapitol, um mit den Parlamentariern zu diskutieren – eine seltene Geste. „Hold the line!“ (Haltet die Stellung!) und „Three point five!“ skandierten draußen linke Demonstranten in Anspielung auf das Volumen des Sozialpakets über 3,5 Billionen. Biden versuchte erst gar nicht, die Abstimmung zu erzwingen. „Es ist egal, ob das sechs Minuten, sechs Tage oder sechs Wochen dauert“, ruderte er überraschend nach dem einstündigen Gespräch zurück.
Konservative Demokratinnen und Demokraten waren empört. Biden aber spazierte am nächsten Morgen demonstrativ gut gelaunt mit einem Becher Kaffee in der Hand und einer Zeitung unter dem Arm über den Rasen des Weißen Hauses zum Präsidenten-Hubschrauber. „Alle sind frustriert“, beschrieb er offen die Stimmung in seiner Partei: „Das gehört dazu, wenn man in der Regierung ist.“ Während die laufenden Rotoren der Marine One seine Worte schon zerhackten, diktierte er den Journalisten und Reporterinnen noch eine kämpferische Botschaft in ihre Blöcke: „Biden arbeitet wie der Teufel, um beide Gesetze durchzubringen. Ich bin überzeugt, dass ich das hinkriegen werde.“
Aber wie? In einem politischen Hochseilakt muss Biden nun die Wünsche beider Parteiflügel austarieren und in Einklang bringen. Doch seine Druckmittel sind sehr begrenzt. Senator Joe Manchin hat als Demokrat den stockkonservativen Kohlestaat West Virginia, der zu 68 Prozent für Trump stimmte, mit 20.000 Stimmen Mehrheit gewonnen. Der 74-Jährige, dessen Hausboot namens „Almost Heaven“ auf dem Fluss Potomac über Parteigrenzen hinweg zu den begehrtesten Treffpunkten der Washingtoner Polit-Szene gehört, schert sich herzlich wenig um Vorgaben aus dem Weißen Haus. Maximal 1,5 Billionen Dollar will er für Soziales und Klima bewilligen. „Ich bin nie ein Linker gewesen“, sagt er stolz. In seiner Heimat kommt das ebenso gut an wie sein Kampf gegen Auflagen für fossile Energieträger.
Noch schwieriger ist die Gemengelage bei Kyrsten Sinema, der zweiten Rebellin. Ihr Sitz im Senat ist bis 2024 sicher. Sechsmal hat Biden inzwischen mit der schrillen Politikerin aus Arizona gesprochen, doch bislang hat diese nicht einmal konkrete Forderungen vorgelegt. Angeblich will sie deutlich weniger für Klimaschutz ausgeben und widersetzt sich der Anhebung der Unternehmensteuer ebenso wie einer Regulierung der in den USA teilweise grotesken Arzneipreise. Längst ist die 45-Jährige zur Lieblingsfeindin der Linken geworden, die ihr Narzissmus und Käuflichkeit durch die Pharmaindustrie vorwirft.
Für Biden gilt: Untergehen oder Sparen
Doch alle Empörung hilft nichts: Wenn Joe Biden nicht mit wehenden Fahnen untergehen will, muss er sein Sozial- und Klimapaket drastisch schrumpfen. Das sehen inzwischen auch die Progressiven so. „Wir müssen unsere Zahlen verkleinern“, gesteht Pramila Jayapal, die Sprecherin der Fraktionslinken. Bis zu einem Volumen zwischen 2,5 und 2,9 Billionen Dollar will sie angeblich inzwischen nachgeben. Im Weißen Haus ist von 1,9 bis 2,2 Billionen Dollar als angestrebte Kompromissgröße die Rede.
Doch wichtiger als derlei Zahlenakrobatik, die durch Buchungstricks verzerrt werden kann, ist die Frage, welche konkreten Vorhaben dem Rotstift zum Opfer fallen. Sollen etwa die Studiengebühren am Community College nur für Bedürftige fallen? Wird die Zahnarztbehandlung künftig doch nicht von Obamacare bezahlt? Kippen die Subventionen für die Wind- und Solarenergie? Jeder Abstrich birgt politischen Sprengstoff und mobilisiert Proteste der Basis. Gleichzeitig sind auf der anderen Seite in Washington alleine 1500 Lobbyisten der Pharma- und Gesundheitsbranche unterwegs, um Bidens Vorhabenkatalog möglichst kräftig zu fleddern.
Der Präsident betätigt sich derweil als reisender Handelsvertreter für sein Investitionspaket. In der vorigen Woche stand er im Ausbildungszentrum einer Gewerkschaft in Michigan. Hinter ihm waren Bagger und ein gelber Kran mit einer amerikanischen Flagge drapiert. „Wir sind an einem Wendepunkt“, mahnte er eindringlich und warb für die Modernisierung der heimischen Infrastruktur: „Es geht um Wettbewerbsfähigkeit oder Selbstzufriedenheit. Es geht darum, ob wir die Welt führen oder weiter zulassen, dass die Welt uns überholt.“
Große Worte. Doch innenpolitisch steht für Amerika möglicherweise sogar noch mehr auf dem Spiel. Sollten Bidens Gesetzesvorhaben scheitern, dann wäre es bei den Zwischenwahlen im nächsten Jahr wohl um die Parlamentsmehrheit seiner Partei geschehen, prognostiziert John Podesta, ein altgedienter demokratischer Strippenzieher und Ex-Obama-Berater: „Wenn die Demokraten nichts für dich tun können, obwohl sie an der Macht sind, hilft es nichts, die Aufmerksamkeit auf die Verrücktheit der Republikaner zu lenken.“ Dann wäre es nicht mehr weit bis zu einer Rückkehr von Donald Trump oder eines seiner Epigonen ins Weiße Haus. „Die Folgen eines Scheiterns“, mahnt Podesta eindringlich, „wären desaströs.“