Mal ist sein schlecht geschnittener Anzug blau, mal hell-, mal dunkelgrau. Dazu trägt der Angeklagte ein einfarbiges blaues oder graues Hemd und eine ungemusterte Krawatte, wie man sie im Kaufhaus im Kombi-Pack kaufen kann. Mund und Nase seines Gesichts verbirgt eine große schwarze Maske. Über der Stirn prangt eine Halbglatze. Stumm verfolgt er sitzend das Geschehen. Nur wenn der Richter den Raum betritt, steht er kerzengerade. Im Saal C 1856 des Bezirksgerichts in Minneapolis gibt Derek Chauvin den Biedermann.
Dem Polizisten Derek Chauvin drohen bis zu 40 Jahre Haft
Der Auftritt kontrastiert auffällig mit dem Bild, das Millionen Amerikaner von dem 45-Jährigen im Kopf haben. Es entstand am 25. Mai des vergangenen Jahres 32 Straßenblocks weiter südlich an einer raueren Ecke der Chicago Avenue. Da schaut Chauvin mit aufgerissenen Augen in die Kamera. Stolz prangt die Dienstplakette auf seiner Brust. Eine hochgesteckte Sonnenbrille verbirgt sein schütteres Haar. Scheinbar lässig hockt der Polizist mit den Händen in den Hosentaschen neben einem Einsatzwagen. Sein linkes Knie aber drückt brutal auf den Hals eines am Boden liegenden Afroamerikaners.
Neun Minuten lang presste der weiße Beamte den mit Handfesseln fixierten Schwarzen so gegen den Asphalt, obwohl dieser immer wieder „I can’t breathe“ („Ich kann nicht atmen“) stöhnte und schließlich das Bewusstsein verlor. Erst als die Rettungssanitäter eintrafen, ließ Chauvin von dem Regungslosen ab. Im Krankenhaus konnte kurz darauf nur noch dessen Tod festgestellt werden. Seit diesem dramatischen Abend ist George Floyd, das Opfer, weltweit zur Ikone einer breiten Protestbewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt geworden.
Der kurz darauf gefeuerte Beamte aber muss sich vor Gericht verantworten. In den ersten drei Wochen des Prozesses wurde die Geschworenen-Jury ausgewählt. An diesem Montag nun beginnt die Verhandlung mit den Eröffnungsplädoyers von Anklage und Verteidigung. Bei einer Verurteilung drohen Chauvin bis zu 40 Jahre Haft.
Prozess nach Tod von George Floyd: Die Erwartungen sind hoch
Das Verfahren „Staat Minnesota gegen Derek Chauvin“ ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Nicht nur der Prozess wird live im Netz übertragen, weil wegen der Corona-Pandemie nur wenige Menschen Zutritt zum Verhandlungssaal haben. Auf veröffentlichten Aufnahmen von Überwachungskameras und Handy-Videos von Passanten konnte das ganze Land auch den Tathergang nachverfolgen.
Anschließend waren im vergangenen Sommer vielerorts in den USA gewaltlose Proteste, aber auch Krawalle und Plünderungen ausgebrochen. Ex-Präsident Donald Trump ließ friedliche Demonstranten vor dem Weißen Haus mit Knüppeln und Pfefferspray vertreiben, um sich mit einer Bibel als „Law and Order“-Mann zu inszenieren. Der damalige Präsidentschaftskandidat Joe Biden aber traf sich mit der Floyd-Familie und sagte anschließend über dessen kleine Tochter: „Ich glaube, ihr Vater wird die Welt verändern.“ Das waren große Worte. Entsprechend mächtig sind nun die Erwartungen an Politik und Justiz. Unmittelbar vor Verhandlungsbeginn hat der schwarze Bürgerrechtler Al Sharp zu einer Kundgebung aufgerufen. „Wir wollen, dass die Polizei für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird“, fordert der Baptistenprediger.
Für die Geschichtsprofessorin Mary Frances Berry, die unter Ex-Präsident Bill Clinton die Bürgerrechtskommission der US-Regierung leitete, ist der Prozess ein Lackmustest auf die Ernsthaftigkeit des Landes im Umgang mit lang bekannten Missständen: „Wenn Chauvin verurteilt wird, ist das ein Signal an die Polizei, dass solches Verhalten nicht geduldet wird“, sagte sie dem Sender BBC. Fatal wäre das Zeichen bei einem Freispruch: „Es würde bedeuten, dass die Polizei mit der Tötung von unbewaffneten Menschen davonkommt, selbst wenn man es mit den eigenen Augen gesehen hat.“
Geschworenen-Jury soll das Urteil im Prozess um Tod von George Floyd sprechen
Schon jetzt ist der Prozess historisch: Es ist das erste Mal, dass im Bundesstaat Minnesota ein weißer Polizist wegen der Tötung eines Schwarzen angeklagt wird. Entsprechend groß sind Medieninteresse und Sicherheitsvorkehrungen. Bereits der Auftakt des Verfahrens verlief turbulent. Erst gab es Streit über die Anklagepunkte und die Zulassung von Beweismitteln. Dann forderte die Verteidigung eine Verschiebung der Verhandlung, weil die Stadt Minneapolis durch die Zusicherung eines Schmerzensgeldes von 27 Millionen Dollar für die Angehörigen von Floyd die öffentliche Stimmung beeinflusst habe.
Und schließlich musste eine möglichst unvoreingenommene Jury zusammengestellt werden, die das Urteil spricht. Am Ende wurden zwölf Geschworene und drei Ersatzkandidaten ausgewählt – neun Weiße, vier Schwarze und zwei Angehörige mehrerer Ethnien. Aus Sicherheitsgründen bleiben ihre Namen bislang geheim. Bürgerrechtler sind mit der Zusammensetzung der Jury, die Afroamerikaner gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil leicht überrepräsentiert, zufrieden. Positiv bewerten sie auch, dass das Gericht neben den Anklagen wegen „Mordes zweiten Grades“ – in Deutschland vergleichbar mit Totschlag – und „Tötung zweiten Grades“ – fahrlässige Tötung auch eine mittelschwere Anklage wegen Mordes dritten Grades zugelassen hat, auf die bis zu 25 Jahren Haft stehen.
Unverständnis hat hingegen die Entscheidung von Richter Peter Cahill provoziert, auch Beweismittel aus einem früheren Strafverfahren gegen Floyd zuzulassen. Chauvins Verteidiger will offenbar versuchen, seinen Mandaten als aufrechten Ordnungshüter zu präsentieren und Floyd, der Zigaretten mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlt hatte, als drogenabhängigen Kriminellen darzustellen. Die Verantwortung für die Eskalation bei der Festnahme versucht er, auf die drei Kollegen von Chauvin abzuschieben, die im August gesondert vor Gericht stehen. Vor allem dürfte der Anwalt argumentieren, dass Floyds Tod nicht durch die brutale Polizeigewalt, sondern von einer Herz-Vorerkrankung sowie dem Konsum des Schmerzmittels Fentanyl und der Droge Methamphetamin ausgelöst worden sei, deren Spuren bei der Autopsie gefunden wurden.
George Floyd: US-Repräsentantenhaus stimmt Polizeireformen zu
Doch zum Vorzeige-Cop taugt Chauvin nicht. In den Akten des Mannes, der seit 2001 bei der Polizei arbeitete, finden sich insgesamt 22 Beschwerden über Fehlverhalten. Zweimal kam es zu einem Disziplinarverfahren. Unter Kollegen galt der 45-Jährige nach amerikanischen Medienberichten als Einzelgänger mit Haudrauf-Mentalität. Fast jedem Tag arbeitete nebenbei als privater Sicherheitsmann in Nachtklubs, Restaurants und Lebensmittelläden. Die Besitzerin eines Klubs, in dem er als Türsteher jobbte, berichtet rückblickend von „unnötig aggressivem Verhalten“ ihres Rausschmeißers gegenüber Schwarzen.
Chauvins Biografie fügt sich ein in das problematische Bild einer Polizei, die in den USA eher militärisch ausgebildet und ausgerüstet ist, zu übermäßiger Härte neigt und nachweislich bei der Konfrontation mit Schwarzen lieber zu früh die Waffe zieht, ohne dafür belangt zu werden. Lange schon fordern Kritiker deswegen grundlegende Änderungen. Mit der Verabschiedung einer Polizeireform hat das demokratisch kontrollierte Repräsentantenhaus Anfang des Monats einen ersten Schritt unternommen: Das Gesetz, das nach George Floyd benannt wurde, würde unter anderem Würgegriffe und ethnische Diskriminierung verbieten und durch veränderte Immunitätsregeln die Anklage von übergriffigen Beamten erleichtern. Doch ob die Reform die erforderliche Mehrheit im Senat erreicht, erscheint derzeit fraglich.
Umso stärker konzentriert sich das öffentliche Interesse auf den Prozess in Minneapolis. Zwei bis vier Wochen könnte es bis zum Urteil der Geschworenen dauern, das völlig unkalkulierbar ist. Die Erwartungen der Hinterbliebenen von George Floyd sind derweil klar. „Das ist kein schwieriger Fall“, sagt Ben Crump, der Anwalt der Familie: „Wäre George Floyd weiß gewesen, wären die Fakten unbestritten und es würde schnell für Gerechtigkeit gesorgt. Damit rechnen wir auch für George.“
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