Länger schon hatte er in Online-Netzwerken zur Unterstützung der Polizei aufgerufen, einmal mit einem halb automatischen Gewehr posiert und Fotos vom Besuch einer Trump-Kundgebung im Januar gepostet, wo er ganz vorne bei den Hardcore-Fans saß. Am Mittwoch beschloss Kyle Rittenhouse, dass es Zeit zum Handeln sei. Mit seiner AR-15 fuhr der 17-Jährige von seinem Heimatort in Illinois rund 30 Autominuten nach Kenosha in Wisconsin. Mit der Waffe in der Hand gab er dort einer rechten Website vor einem Autohandel ein Interview. „Mein Job ist es, dieses Geschäft zu verteidigen“, sagte er. Kurz darauf waren zwei Männer im Alter von 26 und 36 Jahren tot, ein dritter schwer verletzt.
Auf diversen Videoaufnahmen kann man sehen, wie ein junger Mann im olivgrünen T-Shirt beim Laufen stolpert und dann liegend auf mehrere Teilnehmer einer Anti-Rassismus-Demonstration feuert, die teilweise zu Boden fallen. Nach dem Augenschein und den Erkenntnissen der Polizei ist Rittenhouse der Schütze. Er wurde auf der anschließenden Flucht festgenommen und soll wegen Mordes angeklagt werden.
Krawalle in Kenosha: Die Polizei war offenbar überfordert
Der tödliche Zwischenfall ist der bisherige Höhepunkt eines bedrückenden Dramas, das am Sonntag mit den Schüssen eines Polizisten auf den 29-jährigen Afroamerikaner Jacob Blake begann, der lebensbedrohliche Verletzungen erlitt. Die anschließenden, zunächst friedlichen Demonstrationen in der 100.000-Einwohner-Stadt Kenosha schlugen in den folgenden Nächten in Gewalt um. Die örtliche Polizei, mit 200 Beamten überfordert, duldete offenbar das Treiben bewaffneter rechter Milizen wie der „Kenosha Guard“, die sich über Facebook organisierten und selbst zu Ordnungshütern aufschwangen. Zu einer dieser Gruppen soll Rittenhouse gehört haben.
Mutmaßlich rassistisch motivierte Polizeigewalt. Ein absurdes Waffenrecht, das in Wisconsin bereits 18-Jährigen das Tragen von Maschinenpistolen auf offener Straße erlaubt. Milizen, die sich von der Obrigkeit zu ihrem Treiben ermutigt fühlen. Ein Präsident, der das nutzt, um ein Horrorgemälde von „Plünderungen, Brandstiftungen, Gewalt und Rechtlosigkeit“ auf den Straßen demokratisch regierter Städte zu entwerfen, gegen das er sich als Mann von „Law and Order“ in Szene setzt: Wie unter einem Brennglas entfaltet sich in Kenosha ein amerikanischer Albtraum, der den Wahlkampf beeinflussen dürfte.
Die Demokraten befinden sich in einer heiklen Lage
Nach dem Erstickungstod des Afroamerikaners George Floyd unter dem Knie eines Polizisten im Mai, den anschließenden landesweiten friedlichen Protesten und den Krawallen in Städten wie Portland oder Chicago finden die Vorfälle in Kenosha große nationale Beachtung. Umso bemerkenswerter fiel die Reaktion beim Parteitag der Republikaner aus, wo Vizepräsident Mike Pence die linken Proteste gegen Polizeigewalt als „Gewalt und Chaos“ diskreditierte, die aufhören müssten. Die rechten Milizen erwähnte er nicht. Dafür behauptete er: „In Joe Bidens Amerika werden Sie nicht sicher sein.“
Tatsächlich befinden sich die Demokraten in einer politisch heiklen Lage: Viele progressive Aktivisten erwarten von ihnen entschiedene Schritte zu einer Polizeireform. Die Bilder von brennenden Gebäuden und geplünderten Geschäften verschrecken aber Wähler in der Mitte. Der Protest sei „richtig und notwendig“, sagte Präsidentschaftskandidat Biden. Sinnlose Gewalt hingegen sei falsch.
Blakes Anwalt bestreitet, dass der Afroamerikaner ein Messer hatte
Ihren Ausgang hatten die Unruhen in Kenosha am Sonntag genommen. Die Polizei war zu einem Nachbarschaftsstreit gerufen worden. Unklar ist, ob Blake überhaupt an dem Streit beteiligt war oder schlichten wollte. Auf Videos ist zu sehen, wie Beamte ihn an seinem Auto, auf dessen Hinterbank seine drei Kinder sitzen, umzingeln. Er geht ruhig um den Wagen und öffnet die Fahrertür. In diesem Moment feuert ein Polizist ihm sieben Mal in den Rücken. Blake erlitt schwerste innere Verletzungen, ist von der Hüfte abwärts gelähmt. Sein Anwalt bestreitet die Darstellung der Polizei, dass der Afroamerikaner ein Messer bei sich geführt habe.
In den darauffolgenden Nächten kam es nachts in Kenosha zu Krawallen. Nach dem Einsatz von 500 Nationalgardisten und der Verhängung einer Ausgangssperre blieben die Demonstrationen in der Nacht zum Donnerstag laut der Lokalzeitung Milwaukee Journal Sentinel ruhig. Julia Jackson, die Mutter von Blake, mahnte derweil eindringlich zu gewaltfreiem Protest: „Ich habe die Zerstörung gesehen“, sagte sie: „Das entspricht nicht meinem Sohn oder meiner Familie.“
Ob ihr Wunsch erhört wird, wird sich zeigen: Für Freitag – dem 57. Jahrestag der historischen „I have a dream“-Rede des Bürgerrechtlers Martin Luther King – haben Bürgerrechtler zu einem „Marsch auf Washington“ aufgerufen, um gegen Diskriminierung zu protestieren. An der Demonstration in der Hauptstadt könnten Tausende Menschen teilnehmen.
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