Um kurz nach elf Uhr sind die großen gelben Lettern auf dem Asphalt nicht mehr zu sehen. Der stete Strom von Menschen, der von Norden über die 16h Street im Zentrum Washingtons zum Weißen Haus zieht, verdeckt sie komplett. Bürgermeisterin Muriel Bowser wirkt zufrieden: Sie hatte den Demonstranten mit dem riesigen Schriftzug „Black Lives Matter“ („Das Leben von Schwarzen zählt“) über mehrere Straßenblocks hinweg quasi einen Willkommensteppich ausgerollt. Am südlichen Ende der Prachtstraße fällt der Empfang alles andere als herzlich aus.
Ein Zweieinhalb-Meter-Zaun stoppt die friedlichen Protestierer
Ein mit schweren Betonplatten gesicherter Zweieinhalb-Meter-Zaun verwehrt den friedlichen Protestlern mit ihren Plakaten gegen Rassismus und Polizeigewalt den Zugang zum Lafayette Park. Präsident Donald Trump hat neben seinem Amtssitz auch die Grünfläche und mehrere Regierungsgebäude über eine Strecke von drei Kilometern abtrennen und wie eine Festung sichern lassen. Zudem hat er mehrere tausend Nationalgardisten in die Hauptstadt beordert. „Law and Order!“ („Recht und Gesetz!“) twitterte er am Samstag von der anderen Seite des Zauns aus.
Allzu gerne würde Trump die Demonstranten, die seit dem Erstickungstod des a George Floyd bei einer brutalen Polizei-Aktion im ganzen Land auf die Straße gehen, als gewalttätige Chaoten und sich selbst als eisenharten Hüter der Ordnung präsentieren. Die Plünderungen der ersten Tage in Minneapolis, New York oder Los Angeles schienen dazu die passende Folie zu bieten. Doch die Gewalttäter waren von Anfang an klar in der Minderzahl. Inzwischen gewinnt die Bewegung derer, die entschieden, aber friedlich grundlegende Veränderungen zugunsten der schwarzen Bevölkerungsminderheit fordern, immer stärkeren Zulauf.
Wohl mehrere zehntausend Menschen sind es, die am Samstag in sechs Demonstrationszügen allein durch Washington ziehen. Seit anderthalb Wochen schon versammeln sie sich abends vor dem Lafayette Park. Doch so bunt und stark war der Protest noch nie. Es sind Junge und Ältere, Weiße und Schwarze und Farbige. Einige sind von Anfang an dabei, andere erst in den vergangenen Tagen dazugestoßen, seit immer neue Videos von brutalen Polizeiaktionen im Internet die Runde machen und das Land erschüttern. „Kein Frieden ohne Gerechtigkeit“ steht auf ihren Schildern. „Stopp Rassismus jetzt.“ Oder: „Schweigen ist Verrat.“
Zynische Worte Trumps erzürnen die Menschen
Manch einer wird auch drastisch: „Fuck Trump!“ kann man lesen. Der Präsident hatte erst am Freitagabend noch frisches Öl ins politische Feuer gegossen, als er bei einer Pressekonferenz im Rose Garden des Weißen Hauses über den leichten Rückgang der allgemeinen Arbeitslosenzahlen als Beginn des neuen Wirtschaftsaufschwungs („eine Rakete“) monologisierte und dabei ernsthaft sagte, George Floyd solle sich im Himmel darüber freuen. Das war besonders zynisch, weil die Erwerbslosigkeit nur bei den Weißen gesunken, bei den Schwarzen im Mai hingegen gestiegen ist. Doch die Mehrheit der Amerikaner ist deutlich problembewusster als ihr Präsident: Nach einer aktuellen Umfrage der University halten heute 76 Prozent Rassismus und Diskriminierung für ein großes Problem ihres Landes. Vor fünf Jahren waren es nur 50 Prozent.
„Nimm besser ein Sandwich mit, es wird ein langer Tag!“, fordert ein Helfer vor dem Grill an der 15h Street die vorbeiziehenden Demonstranten auf. Die Stulle ist kostenlos. Privatleute und Sponsoren haben Lunchpakete, Wasser und sogar Desinfektionsmittel gespendet. Fast jeder Kundgebungsteilnehmer trägt eine Maske. Die Stimmung ist positiv und deutlich entspannt, seit Bürgermeisterin Bowser die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben und den Abzug der martialischen Armeeverbände aus anderen Bundesstaaten erzwungen hat.
In den USA riecht es nach Aufbruch - aber zu welchen Zielen?
Doch die Proteste in Washington und anderen großen Städten der USA werden nicht zentral organisiert. Dahinter stehen vielmehr zahlreiche Graswurzelbewegungen. Entsprechend vielfältig ist das Bild der Demos: Mal wirken sie eher wie ein Familienausflug, mal wie eine Party mit Funk-Musik und mal wie eine ernste politische Agitation.
Diese Breite macht die Stärke des gesellschaftlichen Aufbegehrens aus. Es riecht nach Aufbruch. Aber noch ist nicht klar, zu welchen Ufern. So muss sich noch herauskristallisieren, was genau das politische Ziel der Bewegung ist. Die anfangs geforderte Verurteilung der vier Polizisten, die für Floyds Tod verantwortlich sind, wird den meisten sicher nicht reichen. Aber ist das Problem mit Reformen der polizeilichen Ausbildung und strikteren Vorgaben für die Anwendung von Gewalt zu lösen, wie sie etwa die Bundesstaaten Minnesota und Kalifornien mit dem Würgegriff-Verbot angekündigt haben? Oder müssen die Budgets der Polizei radikal gekürzt und zugunsten sozialer Projekte für Minderheiten umgeschichtet werden? Was ist mit staatlichen Reparationszahlungen für die Sklaverei? Das alles werde es nie geben, wenn nicht zuerst Trump aus dem Amt gejagt wird, halten die Pragmatiker dagegen.
Zu dieser Gruppe zählt auch Washingtons Bürgermeisterin. „Heute sagen wir Nein. Im November sagen wir: Der Nächste!“, ruft Bowser am Samstag den Protestlern zu. Viele applaudieren. Aber nicht alle sind einverstanden. So greift ausgerechnet die Ortsgruppe der Bürgerrechtsorganisation „Black Lives Matter“ die demokratische Politikerin scharf an, weil sie das Polizeibudget nicht kürzen will. Der gelbe Schriftzug auf der Straße hat als Provokation Trumps weltweit Beachtung gefunden, für die radikalsten Aktivisten vor Ort ist sie nichts anderes als eine „Shownummer“.
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