Irgendwann kann man nicht anders. Man muss sich vorstellen, wie es wäre, wenn statt des lockeren Intellektuellen mit offenem Hemdkragen ein polternder Narzisst mit überlanger Krawatte vor der Kamera sitzen und zu den 3,7 Millionen Schulabsolventen in den USA sprechen würde. „Während ihr euch auf eure Entlassungsfeier gefreut habt, wirbelt eine Pandemie die Welt durcheinander“, sagt der Mann in dem Videoclip. Spätestens jetzt würde Donald Trump seine Krisenpolitik loben. Barack Obama aber scherzt, die Jugendlichen würden mit dem offiziellen Akt nicht viel verpassen: „Meine Reden sind ohnehin immer viel zu lang.“
Video-Botschaften an die Schulabsolventen zur besten Sendezeit
Was für ein Kontrast. Seit knapp dreieinhalb Jahren ist Obama nicht mehr im Amt. Seine Videobotschaft für eine virtuelle Abschlussparty, die am Samstagabend gleichzeitig auf allen großen Fernsehsendern ausgestrahlt wird, kommt aus dem Arbeitszimmer seines Privathauses. Als der siebeneinhalbminütige Clip um 20.45 Uhr zur besten Sendezeit läuft, hat der amtierende Präsident bereits mehr als 50 teils wütende Tweets abgeschossen. Der kürzeste besteht aus einem Wort in Großbuchstaben: „Obamagate!“
Obama erwähnt seinen Nachfolger mit keinem Wort. Trotzdem weiß jeder, wer gemeint ist, wenn der 58-Jährige die Jugendlichen auffordert, sich nicht am Bequemen und Einfachen zu orientieren, wie es „sogenannte Erwachsene, darunter einige mit hochtrabenden Titeln und wichtigen Ämtern“, täten: „Deshalb sind die Dinge so verkorkst.“ Ein paar Stunden zuvor hat er in einer Internet-Botschaft für schwarze Hochschulabsolventen ausgeführt, die Corona-Krise entlarve die Illusion, „dass diejenigen, die Verantwortung tragen, wissen, was sie tun“. Viele täten „nicht einmal so, als seien sie verantwortlich“, hat Obama hinzugesetzt.
Eigentlich wollte Obama zur Tagespolitik schweigen
Eigentlich hatte sich der Ex-Präsident seit seinem Ausscheiden vorgenommen, zur Tagespolitik zu schweigen. Er kümmert sich um seine Stiftung und schreibt an seinen Memoiren. In der Öffentlichkeit ist seine Ehefrau Michelle deutlich präsenter: Ihre im November 2018 gestartete Buchtour hat Hunderttausende in ausverkaufte Arenen gelockt, ein Dokumentarfilm darüber bei Netflix ist ein Streaminghit. Barack spielt nur eine Nebenrolle. Aus der Kandidatenkür seiner Partei für die Präsidentschaftswahl hielt er sich lange öffentlich zurück. Erst im April unterstützte er demonstrativ seinen Ex-Stellvertreter Joe Biden.
Doch schon damals gab es Medienberichte, dass der Elder Statesman im Hintergrund eine Menge Strippen gezogen habe. Nun ist der populäre Ex-Präsident endgültig zu einem zentralen Akteur im Wahlkampf geworden. In einer internen Telefonkonferenz, deren Inhalt öffentlich wurde, hat er Trumps Corona-Krisenpolitik als „absolut chaotisches Desaster“ gegeißelt. Wenn er nun die Schüler in seiner Video-Ansprache auffordert, ihr Leben an „Ehrlichkeit, harter Arbeit, Verantwortlichkeit, Fairness, Großzügigkeit und Respekt vor anderen“ auszurichten, klingt das wie der Gegenentwurf zur Biografie des einstigen Reality-TV-Stars und Immobilienmoguls. Ausdrücklich warnt Obama vor „Sexismus, rassistischen Vorurteilen und Gier“, die die Gesellschaft vergifteten.
Doch die Spaltung der Gesellschaft ist das Geschäftsmodell von Donald Trump, der bewusst provoziert, beleidigt und verletzt, um seine eigenen Anhänger aufzuputschen. Paradoxerweise dürfte ihm daher die Rückkehr seines Vorgängers in die politische Arena ähnlich gelegen kommen wie den Fans des Ex-Präsidenten. Obamas Popularität ist für Trump stets ein Trauma gewesen. Früh brüstete er sich damit, mehr Zuschauer auf die National Mall gelockt zu haben. Seither arbeitet er sich an dem Schatten ab.
Was genau meint Trump mit "Obamagate"?
Vor ein paar Tagen hat sich Trump etwas Neues ausgedacht. Das Schlagwort lautet „Obamagate“. Der Präsident konnte auf Nachfrage zwar nicht erklären, was genau er seinem Vorgänger vorwirft. Grob gesagt unterstellt er Obama eine Verschwörung mit der Bundespolizei FBI zum Sturz des Ex-Sicherheitsberaters Michael Flynn. Das ist bizarr, da Flynn selbst seine Schuld eingestand und von Trump gefeuert wurde. Doch es geht nicht um Fakten, sondern um Emotionen und die Ablenkung von den Negativschlagzeilen der Pandemie, die in den USA bereits mehr als 90.000 Menschen ihr Leben gekostet hat.
Im direkten Vergleich mit seinem Vorgänger aber zieht Trump für die meisten Amerikaner eindeutig den kürzeren. Nach einer Umfrage der Monmouth-Universität haben 57 Prozent ein positives Bild von Obama. Trump kommt nur auf 40 Prozent. Doch richtig glücklich können auch die US-Demokraten nicht sein: Ihr Ex-Präsident mag die Herzen wärmen und nostalgische Gefühle wecken. Im November aber treten sie mit Joe Biden an. Und von dem haben gerade mal 41 Prozent einen guten Eindruck. Die Wahlkampfhilfe von seinem einstigen Chef kann der Kandidat also gut gebrauchen.