„Überstürzt“, „unüberlegt“, „gefährlich“ – so wurde in vielen europäischen Hauptstädten die Ankündigung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump im November 2020 kritisiert, nach dem Jahreswechsel mit dem Teilabzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan zu beginnen.
Ganz anders die Reaktionen in Brüssel, Paris oder Berlin, als am Mittwoch folgender Satz des Präsidenten Joe Biden über die Agenturen lief: „Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu kommen.“ Für das Ende des Einsatzes nannte er ein symbolisch aufgeladenes Datum: Am 11. September, exakt 20 Jahre nach den Taliban-Anschlägen in den USA, soll der letzte Soldat der Vereinigten Staaten Afghanistan verlassen haben.
Biden erntete für seinen Coup kaum Widerspruch, obgleich die US-Regierung ihre Pläne mit keinerlei Bedingungen an die Taliban-Rebellen für den Abzug verknüpfte. Nato-Chef Jens Stoltenberg oder der deutsche Außenminister Heiko Maas hatten bei jeder Gelegenheit versichert, man werde erst abziehen, wenn die Lage in Afghanistan dies zulasse und Erfolge bei den Friedensverhandlungen zu verzeichnen seien.
Biden aber erklärte nun sinngemäß, dass man nie abziehen werde, wenn man dafür ständig Bedingungen stelle. Diese Aussage dürfte nicht nur Maas kalt erwischt haben. Etwas kleinlaut betonte der SPD-Politiker am Donnerstag, dass der Biden-Plan mit einem Abzug bis zum Herbst die „Sicherheit der Soldaten“ gewährleiste.
Die Verbündeten der USA hatten ihre Pläne für einen Abzug aus Afghanistan bereits in der Schublade
Tatsächlich ist es indirekt auch Trump zu verdanken, dass der überraschende Vorstoß Bidens die Partner nicht vor unlösbare logistische Probleme stellt. Schließlich hatten die USA sich in dem im Februar 2020 in Doha vereinbarten Abkommen mit den Taliban verpflichtet, ihre Truppen und die ihrer internationalen Verbündeten bis zum 1. Mai vollständig aus Afghanistan abzuziehen. Das aber ist zeitlich längst nicht mehr machbar.
Die Abzugspläne der Partner, die sich vor Monaten auf Trumps Szenario einstellen mussten, liegen jedoch bereits in der Schublade. So konnte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer jetzt vermelden, dass die aktuell rund 1100 Männer und Frauen der Bundeswehr bis Mitte August zurück nach Deutschland gebracht werden könnten.
Allerdings könnte die Zeitspanne bis zum September für die Streitkräfte des Bündnisses gefährlich werden. Die radikalislamischen Taliban haben einen Boykott der für Ende April geplanten Afghanistan-Konferenz in der Türkei angekündigt. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid erklärte, falls die Vereinbarung – also ein Abzug bis zum 1. Mai – gebrochen werde, würden sich die „Probleme verschärfen“.
Das klang wie eine Drohung, wenn man weiß, dass die Rebellen zwar nicht die größeren Städte, aber weite Teile des Landes kontrollieren. Die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban jedenfalls kommen nicht voran.
Streben die Taliban nun die komplette Machtübernahme in Afghanistan an?
Viele Beobachter gehen ohnehin davon aus, dass die Taliban sich nach einem Abzug der Amerikaner nicht lange damit aufhalten werden, einen Kompromiss mit der regulären Regierung zu suchen, sondern ihre militärische Schlagkraft für eine komplette Machtübernahme in die Waagschale werfen werden.
Was dann aus den in den letzten Jahren mühsam erreichten Fortschritten wie Meinungsfreiheit oder die Rechte der Frauen wird, steht in den Sternen. Skeptiker fürchten, dass ein „Zurück in die Steinzeit“ drohe. Andere Stimmen glauben das nicht: „Die Taliban haben gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerung regieren können. Das bedeutet nicht, dass sie demokratisch sind oder die Frauenrechte respektieren. Aber sie sind pragmatischer geworden“, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig unserer Redaktion.
Fest steht, dass Afghanistans Regierung und die Behörden zumindest in Teilen korrupt sind und die Sicherheit nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch gewöhnliche Kriminelle bedroht wird. Die Zahl der Toten durch Gefechte und Anschläge steigt weiter. Wie viele Afghanen seit 2001 ums Leben kamen, ist unbekannt.
Die USA haben am Hindukusch 2400 Soldaten verloren und zwei Billionen Dollar für den Militäreinsatz ausgegeben. Kein Wunder, dass die Präsenz in den USA selber äußerst unpopulär ist. Biden kritisierte schon in seiner Zeit als Vize unter Präsident Barack Obama den Einsatz, er sprach sich auch gegen die massiven Erhöhungen der Truppenstärke in den Jahren 2011/12 aus, als mehr als 90.000 US-Soldaten in dem Kriegsland stationiert waren. Für Biden sind die Ziele des Einsatzes erreicht. Es sei darum gegangen, dass das Land nicht wieder ein Ort sein könne, von dem aus Terroristen die USA angreifen könnten. „Das haben wir gemacht.“
Entwicklungsminister Gerd Müller sichert Afghanistan Unterstützung zu
Bundesentwicklungsminister Gerd Müller versicherte auf Anfrage unserer Redaktion, dass Deutschland „auch in Zukunft als entwicklungspolitischer Partner an der Seite Afghanistans stehen“ werde. „Denn auch nach dem Abzug internationaler Streitkräfte wird das Land auf internationale Unterstützung angewiesen sein“, sagte der CSU-Politiker.
Schließlich habe das Bündnis in den vergangenen zwei Jahrzehnten große Fortschritte erzielt. So sei die Lebenserwartung seit 2001 um neun Jahre gestiegen, das Pro-Kopf-Einkommen habe sich vervierfacht und die Zahl der Kinder, die zur Schule gehen können, gar verzwölffacht.
Dass Bidens Beschluss, ohne Bedingungen abzuziehen, den Eindruck erweckt hat, die USA würden Afghanistan schnöde im Stich lassen, scheint auch in Washington registriert worden zu sein. Offensichtlich sollte der Blitzbesuch des US-Außenministers Anthony Blinken beim afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani am Donnerstag dieser Interpretation entgegenwirken. Blinken betonte, dass der Abzug die strategischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht schwächen werde. „Ich bin hier, um unser anhaltendes Engagement zu demonstrieren“, sagte Blinken.
Doch wie dieses Engagement für die Zukunft der 39 Millionen Afghanen konkret aussehen wird, bleibt vorerst völlig unklar.
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