Ein paar Luftballons gab es dann doch. Und die Enkelkinder warfen im Hintergrund Luftschlangen. Aber Joe Biden stand nicht auf der Bühne einer gewaltigen Arena, als er offiziell zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gekürt wurde. In seiner linken Hand hielt er eine Atemmaske, die er kurz zuvor abgesetzt hatte. Außer seiner Familie war niemand im Raum. Die virtuelle Kandidatenkür war der bislang wohl ungewöhnlichste Moment eines durch die Corona-Pandemie komplett veränderten Wahlkampfes. Aber den US-Demokraten gelang am zweiten Tag ihres Distanz-Parteitages eines ziemlich eindrucksvolle Inszenierung. Hatte der Auftakt am Montag jenseits der großen Reden des linken Senators Bernie Sanders und der Ex-Präsidentengattin Michelle Obama noch streckenweise wie eine ermüdende Aneinanderreihung von Videoclips und Zoom-Schalten gewirkt, ließen am Dienstagabend eine Vielzahl von persönlichen Testimonials, der sympathische Auftritt von Ehefrau Jill Biden und eine faszinierende Inszenierung des Abstimmungsvorgangs das Fehlen eines echten Publikums fast vergessen.
Der Parteitag der Demokraten erinnert ein wenig an den Eurovision Song Contest
Anfangs schien der sogenannte "Roll Call", bei dem die Delegiertenzahlen aller 50 Bundesstaaten abgefragt wurden, ein wenig an den Eurovision Song Contest zu erinnern, bei dem jedes Land in einer einschläfernden Folge eine Punktezahl durchsagt. Doch tatsächlich nutzten die Demokraten die Live-Schalten in sämtliche Ecken der USA, um die ethnische, kulturelle und landschaftliche Vielfalt ihres Landes vorzuführen. Mal meldeten einfache Parteimitglieder vor einem profanen Maisfeld das Ergebnis, mal berichteten Migranten oder Vertreter der Ureinwohner über Charakteristika ihrer Region, mal gab es Postkartenansichten mit Stränden, mal stand ein Delegierter aus Ohio vor dem ehemaligen General-Motors-Werk in Lordstown, das trotz vollmundiger Versprechen von Donald Trump geschlossen wurde.
3558 Delegiertenstimmen: eindeutiges Ergebnis für Joe Biden
Am Ende des politischen Roadtrips gab es ein eindeutiges Ergebnis: Mit 3558 Delegiertenstimmen wurde wie erwartet der 77-jährige Biden klar als Trump-Herausforderer nominiert. Fast alle seine anfangs 20 innerparteilichen Konkurrenten hatten längst ihre Kandidatur zurückgezogen. Nur der linke Senator Bernie Sanders erhielt sie aufrecht und bekam 1151 Stimmen. Doch Sanders ging es eher um einen symbolischen Akt. Am Vortag hatte er sich schon vorbehaltlos hinter Biden gestellt. Auch die formale Vorstellungsrede für Sanders, die von der populären linken Abgeordneten Alexandra Ocasio-Cortez gehalten wurde, hatte eher prozeduralen Charakter. Die New Yorker Politikerin vermied jeden Seitenhieb gegen Biden.
Mit Bill Clinton unterstützte ein weiterer Ex-Präsident den Kandidaten. Allerdings wird Clinton im Licht der Me-too-Debatten inzwischen von nicht wenigen Demokraten kritisch gesehen. Bedeutsamer schien, dass sich der 95-jährige Ex-Präsident Jimmy Carter, der zu einer Kultfigur der Anti-Trump-Bewegung geworden ist, sowie Cindy McCain, die Witwe des populären republikanischen Senators John McCain, in Audiobotschaften für Biden aussprachen.
Joe Biden - der Kandidat an Jill Bidens Seite
Als beste Botschafterin für den Kandidaten aber bewies sich seine Frau Jill. Die Geschichte ihrer Bekanntschaft mit dem jungen Senator, der ein paar Jahre zuvor seine erste Frau und seine Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren hatte, ist oft erzählt worden. Die vielen eingespielten Fotos aus dem Familienalbum – auch von Bidens Lieblingssohn Beau, der später an einem Gehirntumor starb – sollten natürlich Emotionen wecken. Doch Jill Biden schaffte es in ihrem Live-Auftritt, gleichermaßen ihren Mann menschlich und sympathisch erscheinen zu lassen und doch als eigenständige Person herüberzukommen. Die promovierte Philologin und Lehrerin meldete sich aus einem wegen der Corona-Pandemie verwaisten Klassenzimmer. Sie sprach über die Nöte der Schüler, die Sorgen der Eltern, ihr eigenes Leben und zeigte sich überzeugt, dass Amerika die Krise bewältigen könne, wenn das Land unter ehrlicher Führung wieder zusammenfinde. "Hallo, ich bin Jill Bidens Ehemann", gesellte sich am Ende der Kandidat zur Rednerin. Nach einer Umarmung sagte er mit belegter Stimme: "Sie können sehen, warum sie die Liebe meines Lebens und der Fels unserer Familie ist." Es scheint schwer vorstellbar, dass sich ein solcher persönlicher Moment beim republikanischen Parteitag in der nächsten Woche wiederholt.
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