Frau Neubauer, während wir uns per Zoom unterhalten, sind Sie auf dem Weg nach Großbritannien. Ich nehme an, Sie besuchen den Weltklimagipfel?
Luisa Neubauer: Genau. Wir haben zuerst Meetings in London und fahren dann weiter nach Schottland.
Sie fahren mit der Bahn, anstatt einfach den Flieger zu nehmen...
Neubauer: Ja. Das kann man jetzt als politisches Statement interpretieren, aber es ist schon auch so, dass man mittlerweile sehr gut mit der Bahn nach London kommt.
In Schottland beginnt an diesem Sonntag der Weltklimagipfel. Die ganze Welt blickt darauf – auch, weil Fridays for Future das Thema in die Mitte der Gesellschaft gebracht hat. Sind Sie stolz auf das Erreichte?
Neubauer: Stolz ist nicht das Wort, das ich benutzen würde. Aber ich weiß, dass wir alles gemacht haben, was wir machen konnten. Das ist ein sehr wertvolles Gefühl. Das Problem bleibt allerdings, dass sich der gewaltige Wandel in der öffentlichen und in der politischen Debatte bisher nicht nennenswert in Handeln umgewandelt hat. Das ist aber kein Grund aufzugeben, im Gegenteil. Wir wissen, dass Wandel gelingen kann, dass sich Massen bewegen lassen. Wir lassen uns nicht davon abhalten, das zu organisieren.
Neubauer: "Wissen, wie groß die Kraft der Gewohnheit ist"
Obwohl Sie öffentlichen Applaus bekommen, zeichnen Klimaforscher ein düsteres Bild von der Lage des Planeten. Die Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre steigt unaufhörlich. Frustriert Sie das?
Neubauer: Nein, weil es mich nicht überrascht. Wir wissen, wie groß die Kraft der Gewohnheit ist, wie präsent der politische Unwille ist, das zu tun, was notwendig ist. Genau das treibt uns ja auf die Straße. Jede einzelne dieser schlechten Nachrichten ist für uns ein Grund, uns weiter zu organisieren. Trotzdem hat sich etwas geändert, unter anderem wird viel mehr über die Klimakrise geschrieben in den Medien. Wir müssen aber auch viel mehr über die Menschen sprechen, die bereit sind für den Wandel und ihn auch vorantreiben. Denn die größte Gefahr wäre jetzt, dass Menschen aufgeben, weil sie denken, dass sich die Dinge eh nicht mehr ändern lassen.
Viele Wissenschaftler sagen tatsächlich, dass sich die Klimaziele mit den momentanen Ansätzen nicht erfüllen lassen. Also einfach weitermachen wie bisher?
Neubauer: Das wäre eine sehr bequeme Haltung. Aber auch eine Ausrede. Wir kämpfen schließlich für jedes Zehntelgrad, für jedes einzelne Ökosystem, für jede Art, die noch geschützt werden kann. Wandel wird nicht funktionieren, wenn wir aufgeben, noch bevor wir richtig angefangen haben.
Wie groß sind Ihre Erwartungen in eine Bundesregierung, an der die Grünen beteiligt sein werden?
Neubauer: Wir haben hohe Ansprüche an alle Parteien. Alle haben sich im Wahlkampf als Klima-Parteien inszeniert, alle sind in der Verantwortung, ihre Versprechen zu erfüllen. Und wer es sich herausnimmt, völlig unverfroren „Klimakanzler“ auf seine Plakate zu drucken, der muss dem Erwartungsdruck eben auch gerecht werden. Aber natürlich sind die Grünen in einer Sonderrolle. Denn sie sind die Partei, die am wenigsten behaupten kann, sie wüsste es nicht besser. Die grüne Integrität steht und fällt mit der ökologischen Gerechtigkeit, die jetzt organisiert werden muss. Aus dieser Verantwortung werden wir die Grünen nicht entlassen. Wir werden aber auch nicht darauf warten, dass jetzt alles von allein passiert. Das ist schon die letzten 40 Jahre schiefgelaufen. Wir werden laut sein, gerade wenn sich die Verhandler vielleicht wünschen, dass wir leise sind. Wir werden den Druck erhöhen.
Luisa Neubauer: "Die Maßnahmen reichen vorne und hinten nicht"
Ein Dreierbündnis verlangt allen eine große Kompromissbereitschaft ab. Wie weit darf ein Kompromiss bei den Grünen gehen, um sich nicht völlig unglaubwürdig zu machen?
Neubauer: Unglaubwürdig machen sich alle drei beteiligten Parteien, wenn sie das 1,5 Grad-Ziel in ihr Wahlprogramm schreiben und es dann auf einmal Teil der Verhandlungsmasse wird. Das ist es aber nicht. Wenn die Grünen das Tempolimit aufgeben, müssen sie sicherstellen, dass an anderer Stelle CO2 eingespart wird – das liegt in ihrer politischen Gestaltungsmacht. Was nicht funktioniert, ist, dass wir die CO2-Emissionen so lange schönrechnen, bis wir bei null rauskommen. So habe ich das zumindest in der Schule gelernt – das ist Mathe.
Sie haben schon das Sondierungspapier der mutmaßlichen Bundesregierung kritisiert. Was stört Sie daran?
Neubauer: Wir erleben eine Regierungsbildung, wie wir sie noch nie erlebt haben, weil sie während einer eskalierenden ökologischen Jahrhundertkrise geschieht. Jetzt sind die Verantwortungsträger in der Politik gefragt, ganz neue Aufgaben und große Verantwortung zu übernehmen. Das Sondierungspapier erweckt hingegen den Eindruck, dass es Leute gibt, die Lust haben auf ein bisschen mehr Moderne, ein bisschen mehr Digitales, ein bisschen mehr Gerechtigkeit. Aber alles schön in Maßen. Dass wir eine Aufholjagd gegen eine unvergleichliche Krise angehen müssen, kann man dort nicht erkennen, die Maßnahmen reichen vorne und hinten nicht.
Viele Regierungen versuchen sich an großen Klimaversprechen – die aber in ferner Zukunft liegen. Mit konkreten Sofortmaßnahmen tun sie sich schwerer. Wie sehen Sie das?
Neubauer: Die Regierung unternimmt die merkwürdigsten Verrenkungen, um bloß nichts im Hier und Jetzt zu ändern. Währenddessen werden aber im Hier und Jetzt die Felder geflutet, die Küsten geschwemmt, Menschen verlieren ihre Häuser, Ernte fallen aus und Brücken stürzen ein. Das muss enden, das weiß die Politik selbst. Das Verfassungsgericht hat ganz richtig gesagt: Es geht nicht um das Ziel, sondern es geht um den Plan, wie wir dorthin kommen. Man könnte fast sagen, es ist verfassungswidrig, sich willkürliche Ziele zu setzen, ohne den Pfad zu definieren.
Neubauer vor dem Klimagipfel: "Die Grünen müssen sich sehr schnell Antworten überlegen"
Gibt es etwas, das man ganz schnell umsetzen sollte und könnte?
Neubauer: Die größte Frage wird sein, was im rheinischen Braunkohlerevier passieren wird. Das ist eine ganz konkrete Frage. Denn während die Koalitionäre zusammensitzen, baggern dort die Bagger weiter und drohen, das erste Dorf ganz zu zerstören. Und das, obwohl Studien immer wieder beweisen, dass wir Kohle weder brauchen noch, dass es unser CO2-Budget erlaubt, dass wir sie weiter verwenden. Da sind vor allem die Grünen gefordert, sich sehr schnell Antworten zu überlegen. Sonst können sie ihre ökologische Integrität in der Pfeife rauchen.
So mancher hatte gehofft, dass die Pandemie auch eine Chance ist, etwas Besseres hervorbringen könnte. Nun zeigt sich, dass es vielen zuallererst um den raschen Wiederaufbau ihrer Wirtschaft geht, Umweltgesichtspunkte nach hinten rücken. Hat Corona die Klimapolitik ausgebremst?
Neubauer: Menschen, die nicht wahrhaben wollen, was los ist, werden jede Art von Ausrede finden und sie werden auch die Pandemie nutzen, um nichts zu ändern. Durch die Krise haben wir aber auch gelernt, wie wichtig die Wissenschaft ist und dass wir vieles schaffen, wenn wir zusammenhalten. Genauso kann man natürlich sagen, die Menschen sind erschöpft von der Krise und man darf ihnen jetzt nichts Weiteres zumuten. Das wird man drehen und wenden, wie man eben will. De facto aber sind wir in einer Klimakrise, die es überhaupt nicht interessiert, wie wir sie finden und welche Ausreden wir haben. Heute sind die CO2-Emissionen höher als vor der Corona-Pandemie. Die Aufgabe jetzt ist es, auf der einen Seite nicht in eine Art Fatalismus zu verfallen, weil wir glauben, es sei eh schon zu spät – und auf der anderen Seite einen klaren Blick für die dramatische Situation entwickeln.
Die steigenden Energiepreise machen vielen Menschen aktuell Sorgen. Haben Sie Bedenken, dass die Stimmung kippt?
Neubauer: Das Beispiel zeigt, dass Krisen am Ende immer die treffen, die am verletzlichsten sind, etwa, weil sie finanziell nicht ausreichend abgesichert sind. Wir haben die Klimakrise, jetzt eine Energiekrise, wir werden weitere Krisen im Bereich von Flucht und Migration erleben und Knappheiten etwa bei der Wasserversorgung. Wir brauchen also eine integrative Krisenbewältigung – anders gesagt: Wir werden niemals nachhaltig Krisen bewältigen, wenn wir bei der Bewältigung andere dafür befeuern. Wir werden noch ganz viel lernen müssen über den Umgang mit Krisen und wie man sie so bewältigt, dass Menschen Vertrauen gewinnen und nicht verlieren. Es wird darum gehen, dass der Staat denen hilft, die ihn am meisten brauchen, und sich gleichzeitig Menschen ermutigt fühlen, mit anzupacken.
Luisa Neubauer: "Es ist Teil der politischen Strategie, den Menschen Angst vor Verboten zu machen"
Haben Sie Verständnis für Menschen, die Angst davor haben, den Umweltschutz nicht bewältigen zu können?
Neubauer: Ich sehe darin vor allem eine Kommunikationskrise, wenn Menschen mehr Angst vor dem fehlenden Mettbrötchen als vor mangelndem Katastrophenschutz haben. Das ist Teil einer politischen Strategie, dass man den Menschen jahrzehntelang Angst vor Verboten und Öko-Maßnahmen gemacht hat, mit dem Versprechen, es bleibe alles beim Alten. Das bleibt es aber nicht: Ernten fallen aus, es gibt Starkregen. Um Menschen ihre Angst zu nehmen, müssen Regierungen sich ehrlich machen. Das aber haben sie in den vergangenen 40 Jahren verpasst. Und das Schöne ist ja: Es gibt großartige Pläne gegen die Klimakrise, die im allerbesten Fall ja nicht nur schützen, sondern auch das Leben bereichern und die das Wohlergehen steigern. Es geht darum zu sehen, wo es hakt, und dann loszulegen.
Was erwarten Sie sich vom Klimagipfel? Was müsste bei diesem Gipfel herauskommen, damit er ein Erfolg war?
Neubauer: Das ist ganz schwierig, weil die Logik dieser Gipfel einen echten Erfolg nicht wirklich zulässt. Es gibt leere Worte, leere Reden und eine Vermarktung von Klimazielen, ohne echte Pfade aufzuzeigen. Ein Erfolg wäre es für mich schon, wenn sich die Regierungen ehrlich machen und eine ernsthafte Botschaft an die Menschen verfassen, was jetzt zu tun ist. Sie müssen jene in den Blick nehmen, deren Stimmen kaum gehört werden, die immer wieder erfahren müssen, dass über ihre Gegenwart gesprochen wird, als liege sie in ferner Zukunft. Die Klimakrise ist aber nicht erst da, wenn der Kölner Dom unter Wasser steht. Die Corona-Pandemie hat uns ja gezeigt, was passiert, wenn man versucht, eine Krise zu bewältigen und dabei eine andere befeuert. Wir haben Millionen an die Lufthansa gezahlt, um sie aus der Krise zu holen – während die Klimakrise weiter eskaliert. Nur wenige Prozent der Corona-Hilfen sind in grüne Investitionen geflossen. Und siehe da: Die Emissionen explodieren.
Klimaaktivistin Neubauer: "Die Klimakrise ist kein Zufall"
Wo sehen Sie die Zukunft von Fridays for Future? Als die Bewegung vor drei Jahren begonnen hat, dachten sicher viele, dass es ein vorübergehendes Phänomen sei, das sich schnell wieder legt ...
Neubauer: Das dachte ich auch... Ich habe geglaubt, das ist ein Projekt für zwei, drei Monate. Wir wollten die Regierung ja nur ganz freundlich daran erinnern, dass da noch was war mit dem Klimaschutz, der ein bisschen in Vergessenheit geraten war. Wir hatten ja keine neuen Ideen, sondern wollten nur, dass die Regierung das internationale Abkommen einhält, das sie selbst unterschrieben hat. Unser Anliegen war also alles andere als radikal. Doch die Reaktion war: Bitte nicht am Freitag und bitte nicht in diesem Ton, Frau Neubauer. Ich bin durch und durch Demokratin und aufgewachsen in dem Glauben, dass die Politik sich an ihre eigenen Gesetze und Regeln halten muss. Die Klimakrise ist ja kein Zufall, sie ist ein Resultat von politischen Entscheidungen. Und teilweise würde ich sogar sagen: von politischen Verbrechen.
Wie lange wird es Fridays for Future noch geben?
Neubauer: Ich würde das nicht an dem Label Fridays for Future festmachen, aber wir werden all das tun, was wir tun können. Wir arbeiten jeden Tag darauf hin, dass es uns nicht mehr braucht. Und ich hoffe sehr, dass ich das bald erlebe. Lieber früher als später. Wir müssen einen Punkt erreichen, der zu Veränderung führt, der Gerechtigkeit schafft und die Krise bewältigt. Das zu erreichen ist alles andere als illusorisch. Wir wissen so gut Bescheid wie keine Generation vor uns, wir haben in den letzten Jahren erlebt, dass wir Unvorstellbares bewältigen können. Mir würde jetzt kein einziger Grund einfallen, warum wir verzagen sollten.