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Türkei: Wie Istanbuls Bürger Präsident Erdogan überlisten wollen

Türkei

Wie Istanbuls Bürger Präsident Erdogan überlisten wollen

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    Demonstranten ziehen durch das nächtliche Istanbul. Die Annullierung der Bürgermeisterwahl hat die Erdogan-Gegner mobilisiert.
    Demonstranten ziehen durch das nächtliche Istanbul. Die Annullierung der Bürgermeisterwahl hat die Erdogan-Gegner mobilisiert. Foto: Bülent Kilic, afp

    Osman Karaman greift in die Innentasche seiner Weste und fischt ein säuberlich gefaltetes Blatt Papier heraus. „Hier steht es schwarz auf weiß“, sagt er. „Es gab keinen Pfusch.“

    Das Blatt ist das Protokoll der Stimmabgabe in einem Istanbuler Wahllokal bei der Kommunalwahl am 31. März. Karaman war Wahlhelfer und war bei der Stimmauszählung dabei. Seine Partei, die säkularistische Oppositionspartei CHP, bekam in dem Wahllokal für die Oberbürgermeisterwahl 252 Stimmen, die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan nur 53. „Es war alles sauber“, sagt Karaman.

    Das sagt Erdogan auch. Wenn es etwa um die Auszählung der Stimmen für den Stadtrat geht – wo seine AKP, ganz nebenbei, die Mehrheit verteidigte. Bei der Bürgermeisterwahl aber, die die Regierungspartei verlor, habe es „Regelwidrigkeiten“ gegeben, behauptet er. Deshalb soll sie am 23. Juni wiederholt werden. Osman Karaman will dann wieder im Wahllokal aufpassen, dass nichts schief läuft – und CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu erneut gewinnt. Auf seiner Weste trägt der 74-jährige Rentner neben einer Anstecknadel mit dem Bild des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk einen Button mit der Aufschrift „Meine Stimme für Imamoglu“.

    Seit die Wahlkommission in Ankara auf Druck von Erdogans Regierung Anfang der Woche Imamoglu absetzte und Neuwahlen ausschrieb, befürchten Leute wie Karaman, dass ihr Kandidat im Juni mit unlauteren Mitteln aus dem Rathaus ferngehalten werden soll. Erdogan, der 1994 als Oberbürgermeister von Istanbul seine Karriere begann, will die Kontrolle der größten und reichsten Stadt des Landes nicht Imamoglu und der CHP überlassen. Dire Opposition ist überzeugt, dass Erdogan alle legalen und illegalen Mittel nutzen wird, um sein Ziel zu erreichen. Und das will sie verhindern. „Wir werden alle Resultate überprüfen“, sagt Karaman.

    Mehr als sieben Wochen sind es noch bis zum Wahltag, aber schon jetzt zeigt sich, wie sehr sich die Verhältnisse in der Stadt geändert haben. Ein Vierteljahrhundert lang ist Istanbul von islamisch-konservativen Politikern regiert worden. Niemals in dieser langen Ära hatte die Opposition in Istanbul eine Chance. Das ist jetzt anders. Der Sieg vom 31. März hat die Erdogan-Gegner elektrisiert. Innerhalb weniger Tage haben sich etwa 80.000 Freiwillige bei der CHP als Wahlhelfer für Juni gemeldet.

    Ekrem Imamoglu (Mitte) ist der große Hoffnungsträger der türkischen Opposition. Er hat die Bürgermeisterwahl in Istanbul im März zunächst gewonnen.
    Ekrem Imamoglu (Mitte) ist der große Hoffnungsträger der türkischen Opposition. Er hat die Bürgermeisterwahl in Istanbul im März zunächst gewonnen. Foto: Bülent Kilic, afp

    Hoffnungsträger Imamoglu wird von einer Welle der Begeisterung getragen

    „Etliche meiner Freunde sind im März gar nicht erst zur Wahl gegangen, weil sie dachten, sie könnten eh nichts ändern“, sagt ein Istanbuler Manager. „Das wird ihnen nicht noch einmal passieren.“ Imamoglu wird von einer Welle der Begeisterung getragen, die vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen wäre. Anfang des Jahres kannte kaum jemand außerhalb des Vorortes Beylikdüzü, wo er Bezirksbürgermeister war, den Namen des 48-jährigen. Heute ist er der Hoffnungsträger der ganzen Opposition und wird schon als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt.

    Selbst viele AKP-Anhänger empfinden die Amtsenthebung von Imamoglu aufgrund fadenscheiniger Beschwerden von Erdogans Leuten über angebliche Unregelmäßigkeiten bei der März-Wahl als ungerecht. Er werde für Imamoglu stimmen, sagt ein Istanbuler Gemüsehändler, der seit zehn Jahren der AKP angehört.

    Viele loben, anders als Erdogan wolle Imamoglu die türkische Gesellschaft nicht spalten, sondern die verschiedenen Lager miteinander versöhnen. Diese Botschaft steht auch im Zentrum seines neuen Wahlkampfes. In einer neuen Videobotschaft schärft Imamoglu seinen Anhängern ein, niemand dürfe wegen einer anderen Meinung ausgegrenzt oder beleidigt werden. „Wir werden alle umarmen.“ Das sind ganz andere Töne als bei Erdogan, der die Polarisierung seit Jahren bewusst als Mittel einsetzt, um die eigenen Wähler zu mobilisieren. Imamoglus Video wurde innerhalb von weniger als 24 Stunden fast drei Millionen Mal geklickt.

    Der Oppositionspolitiker erhält sowohl Unterstützung von der nationalkonservativen Iyi Parti, der „Guten Partei“, als auch von der Kurdenpartei HDP. Gegensätze innerhalb der Opposition rücken in den Hintergrund. Niemand redet derzeit davon, dass Imamoglus CHP vor einigen Jahren dafür stimmte,

    Recep Tayyip Erdogan (rechts) will nicht hinnehmen, das seine Heimatstadt Istanbul nicht mehr von seiner Partei AKP regiert wird.
    Recep Tayyip Erdogan (rechts) will nicht hinnehmen, das seine Heimatstadt Istanbul nicht mehr von seiner Partei AKP regiert wird. Foto: dpa

    Auf die Integrationsfigur Imamoglu können sich die sonst zerstrittenen Oppositionsparteien zumindest bis zur Juni-Wahl einigen. Er profitiert gleich von zwei Entwicklungen. Erstens hat er die Wahl im März gewonnen und damit Erdogans Ruf der Unbesiegbarkeit in dessen Heimatstadt zerstört. „Dass die türkische Opposition tatsächlich einmal gewonnen hat, ist ein wichtiger Paradigmen-Wechsel“, sagt der in den USA lebende Türkei-Experte Semil Sazak.

    Zweitens wird Imamoglu seit seiner umstrittenen Vertreibung aus dem Rathaus als Opfer einer durch und durch korrupten und autokratischen Regierungsmaschinerie gesehen, die Justiz, Medien und offiziell unabhängige Institutionen wie die Wahlkommission unter ihrer Knute hat. Imamoglu habe auf diese Weise die „moralische Überlegenheit“ im neuen politischen Duell mit der AKP frei Haus geliefert bekommen, kommentiert der türkische Oppositionsjournalist Murat Sabuncu.

    Wegen der Wahlwiederholung sagt eine bekannte Rockgruppe ein Konzert ab

    Das Ergebnis ist eine Mobilmachung, die für eine einfache Bürgermeisterwahl in der Türkei völlig neu ist. Prominente Künstler wie der Popsänger Tarkan bekennen sich öffentlich zu Imamoglus Wahlkampfmotto „Alles wird gut“. Die bekannte Rockgruppe Duman sagte ein für den 23. Juni geplantes Konzert im Osten der Türkei ab, damit die Musiker in Istanbul ihre Stimme abgeben können. Erdogans Präsidialamt ließ die Künstler wissen, dass ihre Parteinahme für die Opposition sorgfältig registriert wird. Doch der Einschüchterungsversuch zieht nicht.

    So groß ist der Enthusiasmus, dass einige Türken sogar ihre Lebensplanung umstoßen. Ein junger CHP-Politiker, der am Wahltag im südostanatolischen Batman heiraten wollte, verkündete auf Twitter, er habe seine Hochzeit verschoben, um am Imamoglu-Wahlkampf teilnehmen zu können. Viele andere Istanbuler stornieren ihre Sommerferien. Nach Angaben des türkischen Reisebüro-Verbandes melden mehr als 5000 Agenturen im ganzen Land die Annullierung von Urlaubsreisen am Wahl-Wochenende. Manche Ferienorte ziehen mit einer ironischen „Bleibt daheim“-Kampagne mit. Ein sonniger Küstenort sagt für den 23. Juni Schnee und Sturm voraus, ein anderer einen Haifisch-Angriff am Strand und ein weiterer eine eintägige Hitzewelle mit Temperaturen von 150 Grad Celsius. Am 24. Juni seien dann alle Urlauber wieder willkommen.

    Der AKP ist die Sympathiewelle für die Opposition nicht verborgen geblieben. Intern soll Erdogan den Funktionären seiner Partei schwere Vorwürfe gemacht haben, weil die Niederlage nicht verhindert wurde. Nun versucht die Regierungspartei, aus der Defensive zu kommen.

    Das geht nicht ohne ein wenig Selbstkritik. Erdogan selbst und AKP-Provinzfürsten sind es nach langen Jahren an der Macht gewohnt, in protzigen Fahrzeug-Konvois durch die Städte zu rauschen. Zumindest bis zur Wahl soll es jetzt etwas bescheidener zugehen. Erdogan ordnete an, dass nicht mehr jeder Berater einen eigenen Dienstwagen benutzen soll. Stattdessen sollten Busse angemietet werden. Am Donnerstag leitete Erdogan erstmals persönlich eine Arbeitsgruppe der Regierung zum Thema EU-Reformen. Auch neue politische Angebote an die Kurden werden erwartet.

    Jetzt will sich Erdogan selbst in den Wahlkampf werfen

    Als bestes Zugpferd seiner Partei wird sich Erdogan in den kommenden Wochen in den Wahlkampf am Bosporus werfen, um die eigene Anhängerschaft an die Urne zu bringen. Wahlanalysen der Partei haben ergeben, dass rund 1,7 Millionen potenzielle Wähler der AKP am 31. März zu Hause blieben oder mit Blick auf die Neuwahl unentschlossen sind. Nun will die Partei möglichst viele dieser enttäuschten Anhänger ansprechen und zur Stimmabgabe im Juni überreden.

    Reibungslos läuft die Abkehr von der autokratischen Linie zugunsten eines freundlicheren Auftretens jedoch nicht. AKP-Medien verteufeln Imamoglu und seine Anhänger weiter als Vaterlandsverräter. Einem regierungskritischen Schauspieler wurde der Pass entzogen, als er ins Ausland reisen wollte.

    Einer Umfrage zufolge liegt Imamoglu rund zwei Prozentpunkte vor dem AKP-Kandidaten Binali Yildirim. Besonders bei jungen Leuten schneidet Imamoglu erheblich besser ab als sein Gegner.

    Das hängt auch damit zusammen, dass die AKP nicht nur gegen Imamoglu und eine hoch motivierte Opposition kämpft, sondern auch gegen eine miserable Wirtschaftslage. Die Lira verliert jeden Tag weiter gegenüber Dollar und Euro an Wert, die Arbeitslosigkeit ist mit 15 Prozent so hoch wie seit vielen Jahren nicht mehr. Dass sich die Situation bis zum 23. Juni entscheidend verbessert, ist nicht zu erwarten. Unterdessen zeigen sich in der AKP immer tiefere Risse. Dissidenten werfen Erdogan ein Abrutschen in die Autokratie vor.

    Für Erdogan wird es also schwer bei dieser Wiederholungswahl. Seine Gegner sind entschlossen und überzeugt, die Gerechtigkeit auf ihrer Seite zu haben. Und der Präsident hat es mit einer verunsicherten eigenen Partei zu tun, die von einem neuen Wahlkampf nicht begeistert ist. CHP-Wahlhelfer Karaman jedenfalls sehnt den Wahltag schon herbei: „Wir werden mehr Stimmen bekommen, als wir uns vorstellen können.“

    „Es gab keinen Pfusch“, sagt Wahlhelfer Osman Karaman. Er ist ein Gegner von Präsident Erdogan.
    „Es gab keinen Pfusch“, sagt Wahlhelfer Osman Karaman. Er ist ein Gegner von Präsident Erdogan. Foto: Susanne Güsten
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