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Türkei: Wie Erdogan die Presse knebelt

Türkei

Wie Erdogan die Presse knebelt

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    Recep Tayyip Erdogan ließ seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ 177 Medien in seinem Land schließen.
    Recep Tayyip Erdogan ließ seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ 177 Medien in seinem Land schließen. Foto: Sedat Suna/EPA/dpa

    Eigentlich hätten die Türken bei der Neujahrsansprache ihres Ministerpräsidenten vom Sofa fallen müssen. Die Türkei werde auch im neuen Jahr „die friedenstiftende Rolle in der Region und der Welt spielen, für die sie bekannt ist“, versprach Binali Yildirim seinen Landsleuten. Sie werde „ihre stabile Demokratie und ihren Rechtsstaat bewahren“.

    Dabei kann von Rechtsstaat keine Rede mehr sein, seitdem Präsident Recep Tayyip Erdogan im Juli 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch den Ausnahmezustand verhängte, Kritiker festnehmen und nach Angaben der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) 177 Medien schließen ließ. Derzeit seien „weit über 100 Journalisten in der Türkei“ im Gefängnis. Seinem Ziel, der Einführung eines Präsidialsystems, scheint Erdogan näher zu sein denn je. Das Parlament nahm am Montag die Debatte über die entsprechenden Verfassungsänderungen auf.

    Wie soll man sich seriös informieren?

    Christoph Dreyer von „Reporter ohne Grenzen“ sagt: „Die Lage für die Pressefreiheit in der Türkei ist extrem ernst.“ Gerade angesichts einer möglichen weitreichenden Verfassungsänderung sei das fatal. „Besonders jetzt bräuchten die Türken die Möglichkeit, frei zu diskutieren.“ Doch es werde immer schwieriger für sie, sich in ihrem Land seriös zu informieren. „Es gibt noch ein paar wenige unabhängige Medien“, sagt Dreyer, „aber es werden immer weniger.“ Unabhängige Medien müssten jederzeit mit Razzien rechnen und fürchten, geschlossen zu werden.

    Erdogan-Kritiker Can Dündar lebt seit Monaten im Exil in Deutschland.
    Erdogan-Kritiker Can Dündar lebt seit Monaten im Exil in Deutschland. Foto: Arne Dedert/dpa

    Der frühere Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, sieht die Türkei auf den Weg in die Diktatur. „Die freie Presse ist fast tot, Journalisten, die für Pressefreiheit kämpfen, sind in Lebensgefahr, die Polizei geht gegen Demonstranten auf der Straße vor; jeder Kritiker, der seine Stimme erhebt, muss damit rechnen, festgenommen zu werden“, sagte er erst vor wenigen Tagen Spiegel Online.

    Erdogan zeigt Journalisten an

    Dündar drohen in der Türkei fünf Jahre und zehn Monate Haft wegen eines Artikels über mutmaßliche geheime Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Islamisten in Syrien. Erdogan hatte ihn angezeigt, der Vorwurf: Geheimnisverrat. Dündar, der inzwischen in Deutschland im Exil lebt, ist für ihn ein Staatsfeind. In einem zweiten Prozess wegen Terrorvorwürfen könnte der Journalist zu einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren verurteilt werden. Der

    Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“ musste erneut vor Gericht.
    Erol Önderoglu von „Reporter ohne Grenzen“ musste erneut vor Gericht. Foto: AFP PHOTO / OZAN KOSE

    Am Mittwoch wurde auch der Prozess gegen den Türkei-Korrespondenten von „Reporter ohne Grenzen“, Erol Önderoglu, in Istanbul fortgesetzt. Weil er an einer Solidaritätsaktion für die prokurdische Zeitung Özgür Gündem (wir berichteten) teilnahm, wirft man ihm „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor. „Seit Jahrzehnten waren wir gewohnt, dass Journalisten willkürlich inhaftiert und systematisch von der Justiz verfolgt werden“, zitierte ihn die Nachrichtenagentur afp am Mittwoch. Heute aber würden die gesamte Zivilgesellschaft, Menschenrechtler und kritische Journalisten dieses Schicksal erleiden.

    Das Präsidialsystem, das Erdogan anstrebt, soll der terrorgeplagten Türkei mehr Stabilität und Sicherheit bringen – dabei kann Erdogan schon seit dem vergangenen Sommer per Dekret und ohne Parlament regieren. Die Gewaltwelle konnte er nicht stoppen. Dündar hat die Hoffnung auf eine demokratische Türkei nicht aufgegeben, vor allem, weil die Hälfte der Menschen gegen die Pläne Erdogans und der Regierung sei, sagte er. Fundiert und unabhängig informieren, sich ein vernünftiges Urteil über die Entwicklungen in ihrem Land bilden – das können sich türkische Bürger aber kaum noch.

    Erdogan erfindet „alternative Realitäten“

    Politiker wie Erdogan erfinden „alternative Realitäten“ – und diese verfestigen sich allmählich zu Gewissheiten. Dass etwa der Prediger Fethullah Gülen den Putschversuch eingefädelt habe, gilt in der Türkei als ein derart klarer Fall, dass der parlamentarische Ermittlungsausschuss nicht einmal die Hauptakteure anhören wollte – der Präsident hatte den Schuldigen ja bereits ausgemacht. Und dass die USA, Europa und/oder Israel sowohl hinter der als Terrorgruppe verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) stecken als auch hinter Gülen und dem sogenannten Islamischen Staat, wie das Regierungspolitiker häufig behaupten, wird öffentlich nur noch selten infrage gestellt.

    Auch in anderen Ländern gaukeln Politiker Wählern gerne etwas vor. So behauptete der künftige US-Präsident Donald Trump vor Monaten, sein Vorgänger Barack Obama habe den Islamischen Staat gegründet – lange bevor Erdogan in der vergangenen Woche einen ähnlichen Vorwurf erhob. Der Unterschied ist, dass US-Bürger sich aus seriösen Quellen informieren können. In der Türkei dagegen sind viele Zeitungen und TV-Sender auf Erdogans Linie. Wenn nicht, sind sie verboten. „Das Fahndungsfoto des Täters“, titelte eine Zeitung nach dem Terroranschlag auf einen Istanbuler Nachtklub in der Neujahrsnacht – und brachte dazu ein Bild Obamas. Und wenn der Energieminister und Erdogan-Schwiegersohn Berat Albayrak die ständigen Stromausfälle in Istanbul mit „Cyber-Angriffen aus den USA“ rechtfertigt, übernehmen das auch vormals ernst zu nehmende Zeitungen unkritisch.

    Die verbliebenen unabhängigen oder oppositionellen Medien geben sich Mühe, zu berichten, was ist. Allerdings pflegt gerade auch die Opposition einen lockeren Umgang mit der Wahrheit. Der inhaftierte Journalist Ahmet Sik habe drei Tage lang kein Wasser bekommen, empörten sich Oppositionsmedien am vergangenen Wochenende. Doch Sik war nicht in Lebensgefahr – er hatte lediglich Leitungswasser trinken müssen, statt Wasser in Flaschen zu erhalten.

    Die wohl schwerste Behinderung wahrheitsgemäßer Berichterstattung besteht aber in der immer schärferen Zensur des Internets, mit der die Türken langsam von der Außenwelt und unabhängigen Informationen abgeschnitten werden. Tausende Internetseiten sind in der Türkei gesperrt, ebenso die Twitterkonten kritischer Journalisten im Exil. Lange konnten diese Sperren leicht umgangen werden, inzwischen blockieren die Behörden auch die elektronischen Schlupflöcher.

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