Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Türkei: Unterwegs im Kurdengebiet: Städte sollen aus Ruinen auferstehen

Türkei

Unterwegs im Kurdengebiet: Städte sollen aus Ruinen auferstehen

    • |
    So sah es nach den Gefechten im vergangenen Jahr aus: das zerstörte und abgeriegelte Viertel Abdul Kadir Pascha in Nusaybin im Kurdengebiet der Südosttürkei.
    So sah es nach den Gefechten im vergangenen Jahr aus: das zerstörte und abgeriegelte Viertel Abdul Kadir Pascha in Nusaybin im Kurdengebiet der Südosttürkei. Foto: Can Merey, dpa

    In der Stadtmitte schleppt ein magerer Schimmel ein Fuhrwerk über die halb verschütteten Schienen der Berlin-Bagdad-Bahn, die an bessere Zeiten in dieser kurdischen Kleinstadt erinnert. Kleinbusse und Mopeds rangieren um ihn herum, es hupt und stinkt und stockt wie eh und je im Verkehr von Nusaybin. Noch im vergangenen Jahr herrschte Krieg in der Stadt, lieferten sich kurdische PKK-Milizen und türkische Sicherheitskräfte monatelange und verlustreiche Kämpfe. Nun sind die Straßen wieder voller Menschen; die Bewohner gehen ihren täglichen Geschäften nach wie eh und je. "Alles ist wieder ganz normal, Gott sei Dank", sagt ein Einwohner.

    Türkische Kurdengebiete: Die staatliche Wohnungsbaugesellschaft gibt Vollgas

    Die Region ist befriedet, aber von Frieden kann noch keine Rede sein. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Spuren der Kämpfe noch deutlich sichtbar. An den Einfallstraßen kontrollieren bewaffnete Sicherheitskräfte alle Fahrer, die nach Nusaybin hinein wollen. Wo die östlichen Stadtviertel einst standen und von Oktober 2015 bis Juni 2016 die Kämpfe tobten, erstreckt sich heute ein gigantisches Abriss- und Baugebiet.

    Teils sind am Rande der Großbaustelle noch die zerschossenen und zertrümmerten Häuser der alten Stadtviertel zu sehen. Riesige Löcher klaffen in ihren Wänden, einige von PKK-Kämpfern als Durchschlupfe für den Häuserkampf geschlagen, andere von den Geschützen der türkischen Sicherheitskräfte geschossen. Dahinter erheben sich reihenweise die grauen Betongerippe der Mehrfamilienhäuser, die der Staat hier für die ausgebombten Bewohner dieser Viertel errichtet.

    4600 Wohnungen sollen bis zum Winter bezugsfertig sein, und die staatliche Wohnungsbaugesellschaft gibt Vollgas. Dutzende Häuser stehen schon, für andere sind die Baugruben ausgehoben, und überall rangieren Lastwägen, Raupen und Baukräne. Ein Jahr lang haben zehntausende Bewohner bei Verwandten oder in angemieteten Ausweichquartieren ausgeharrt, und schon übernächstes Jahr ist Superwahljahr in der Türkei.

    Viele Kurden stimmten für Erdogans Präsidialsystem

    Viele Kurden in der Region kreiden es der PKK an, dass sie ab 2015 den Krieg in die Städte trug. Das zeigte sich an der Wahlurne: Bei der Volksabstimmung im April votierten viele im Kurdengebiet für das Präsidialsystem von Staatschef Recep Tayyip Erdogan.

    Um auch 2019 davon profitieren zu können, muss Erdogan den angekündigten Wiederaufbau auf den Weg bringen. Nicht nur in Nusaybin wird deshalb gebaut, was das Zeug hält. Auch in den Städten Silopi, Sirnak, Cizre und Idil werden ganze Neubaugebiete für die vertriebenen Bewohner hochgezogen. In der Provinzhauptstadt Mardin wird an einer überfälligen Durchgangsstraße gebaut, in der Kreisstadt Midyat entstehen vierspurige Ausfallstraßen.

    60.000 kurdische Flüchtlinge saßen im Frühjahr vergangenen Jahres noch in Midyat auf den Straßen und in den Parks, während ihre Häuser in den umliegenden Städten in Schutt und Asche geschossen wurden. Heute ist es wieder ruhig in der Kreisstadt, in der die letzten assyrischen Christen der Türkei zu Hause sind. Nachts laufen Familien mit Kindern fröhlich plaudernd durch die dunklen Straßen von den Kirchenfesten zurück, die wegen der extremen Hitze erst nach Sonnenuntergang beginnen. Hier und da spielt Musik, wird bei einer kurdischen Hochzeit oder christlichen Taufe unter freiem Himmel getanzt. "Sicher ist der Ausnahmezustand nicht erfreulich, aber zumindest gibt es Ruhe und Sicherheit", sagt ein christlicher Anwohner.

    Richtiger Frieden ist im Südosten der Türkei nicht in Sicht

    Nach Ruhe und Frieden sieht es auf den ersten Blick auch in einem Teegarten der Provinzhauptstadt Mardin aus, wo Familien und Freunde bei Sonnenuntergang die Brise genießen. Doch dann begleiten schwer bewaffnete Männer in kugelsicheren Westen einen älteren Herrn an seinen Tisch. Es ist die Leibwache des örtlichen AKP-Abgeordneten Orhan Miroglu, einem kurdischen Schriftsteller. Er will dort seinen Tee trinken – kann das aber selbst im Wahlkreis nicht ohne großes Sicherheitsaufgebot tun.

    Während Miroglu seinen Tee trinkt, sitzt eine andere Abgeordnete dieses Wahlkreises seit Monaten hinter Gittern – sie gehört der kurdischen Partei HDP an. Und die Stadt Mardin selbst, in der die HDP bei der letzten Kommunalwahl die Mehrheit errang, steht seit einem dreiviertel Jahr unter staatlicher Zwangsverwaltung; der gewählte HDP-Bürgermeister saß monatelang im Gefängnis.

    Von dem Teegarten auf der Anhöhe von Mardin geht die Aussicht über die nahe Grenze nach Syrien, wo die PKK derzeit mit ihrer Schwesterorganisation YPG und dem syrischen Bürgerkrieg beschäftigt ist. Ein wahrer Frieden ist auch in der Südosttürkei nicht in Sicht.

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Umfrageinstitut Civey zusammen. Was es mit den Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier .

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden