Auch nach gut acht Jahren als türkischer Ministerpräsident scheiden sich an Recep Tayyip Erdogan die Geister. Für seine Anhänger ist der 57-jährige eine Lichtgestalt, für seine Gegner ein politischer Unhold. Einig sind sich Freund und Feind aber darin, dass Erdogan die Türkei stärker verändert hat als die meisten Regierungschefs vor ihm. Bei der Parlamentswahl am Sonntag bewirbt sich Erdogan zum letzten Mal um ein Mandat in der Volksvertretung. Darüber, was er anschließend vorhat, wird schon heftig spekuliert. Denn möglicherweise strebt Erdogan nach Höherem.
Mehr oder weniger offen spielt Erdogan mit dem Gedanken, das parlamentarische System der Türkei per Verfassungsreform in ein Präsidialsystem umzuwandeln. Dass er gerne selbst an der Spitze eines solchen Systems stehen würde, ist ein offenes Geheimnis. Erdogans letzter Parlamentswahlkampf könnte deshalb der Vorbereitung auf das Präsidentenamt dienen, das derzeit noch von seinem Freund Abdullah Gül bekleidet wird.
Gül hat sich mit seiner ruhigen und ausgleichenden Art viel Respekt erarbeitet. Ob Erdogan ebenso präsidial wäre, ist fraglich. Der aus dem Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa stammende Regierungschef ist mit Leib und Seele Parteipolitiker, der nichts Schöneres kennt, als auf den jeweiligen Gegner einzudreschen. Salbungsvolle Ansprachen sind seine Sache nicht.
Das Kämpfen hat Erdogan schon früh gelernt. In seiner Jugend verkaufte er Sesamkringel in Kasimpasa, als Jungpolitiker setzte sich der talentierte Fußballer, der wegen seiner Frömmigkeit den Beinamen "Imam Beckenbauer" erhielt, 1994 als Bürgermeister von Istanbul durch.
Im Amt offenbarte Erdogan eine politische Eigenschaft, die ihn bis heute auszeichnet: Er mag als Privatperson ein frommer Muslim sein, doch als Politiker ist er vor allem Pragmatiker.
Türkische Säkularisten verstanden Erdogans politisches Talent als Gefahr. Ende der 1990er Jahre kam er ins Gefängnis, doch der Kämpfer Erdogan arbeitete schon im Knast an seinem Comeback. Nach seiner Entlassung gründete er im Jahr 2001 mit Gül und anderen Gleichgesinnten die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die sich an den europäischen Christdemokraten orientierte: wertkonservativ, wirtschaftsfreundlich, pragmatisch. Ein Jahr später wurde die AKP an die Regierung gewählt, im März 2003 wurde Erdogan Ministerpräsident.
In seiner Regierungszeit begann die Türkei mit EU-Beitrittsverhandlungen, ein Wirtschaftsboom mehrte das politische Gewicht des Landes und sorgte für wachsenden Wohlstand. Erdogan ist der erste türkische Regierungschef, der öffentlich das Kurdenproblem beim Namen nannte, und er drängte den politischen Einfluss der Militärs zurück.
Nach und nach lernten die Türken und das Ausland aber auch, dass Erdogan neben seiner Rolle als Reformer noch andere Seiten hat. Der Ministerpräsident verklagte Karikaturisten, weil er nicht als Katze gezeichnet werden wollte. Frauenverbände reagierten empört, als Erdogan forderte, jedes Ehepaar solle mindestens drei Kinder in die Welt setzen. Die Deutschen erschreckte er mit der Warnung, eine Assimilierung der in der Bundesrepublik lebenden Türken sei ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die Beziehungen der Türkei zu Israel rutschten in eine Dauerkrise.
Umfragen gehen von 45 bis 50 Prozent aus
Im Regierungsalltag zog Erdogan immer mehr Befugnisse an sich und umgab sich nach Beobachtung von US-Diplomaten mit Ja-Sagern. Ob der Regierungschef mit den angeblichen Präsidial-Ambitionen tatsächlich die Bodenhaftung verloren hat, wird sich am Wahltag zeigen. Umfragen zufolge kann die AKP mit 45 bis 50 Prozent der Stimmen rechnen und steht damit vor einem neuen Triumph. Das Raubein Erdogan dürfte den Türken noch eine Weile erhalten bleiben - in welchem Amt auch immer.
Wie sicher er sich seines Sieges ist, zeigte sich schon am Mittwoch. Da kündigte Erdogan an, nach seinem Sieg die EU-Bewerbung seines Landes mit einem eigenen Ministerium aufwerten. Das EU-Ministerium werde zum neuen Kabinett der Türkei nach der Wahl gehören, sagte Erdogan am Mittwoch in Ankara. afp