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Türkei: „Radikale Liebe“ für die Wähler

Türkei

„Radikale Liebe“ für die Wähler

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    Er will einen neuen Politikstil etablieren: Ates Ilyas Bassoy.
    Er will einen neuen Politikstil etablieren: Ates Ilyas Bassoy. Foto: Bassoy

    Als der neue Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu nach seinem Wahlerfolg am vergangenen Sonntagabend seine Siegesrede vor mehreren zehntausend begeisterten Anhängern begann, hatte er eine Bitte an seine Zuhörer: „Fasst bitte alle den Mitbürger neben euch bei der Hand. Alle zusammen, Hand in Hand“, rief Imamoglu. „Wir sind angetreten, um zu versöhnen, um uns zu begegnen, um uns zu verstehen, um uns zu lieben. Istanbul! Die Liebe hat gewonnen, die Liebe!“

    In der Szene kam mehr zum Ausdruck als nur die geschickte Rhetorik eines Politikers, der zum neuen Star der türkischen

    Ates Ilyas Bassoy, 48-jähriger Chef einer Istanbuler Werbeagentur und bekennender Linker, ist der Mann hinter diesem Konzept. Als Bassoy der Führung von Imamoglus Partei CHP im vergangenen Herbst seine Idee vorlegte, dürften sich so manche Funktionäre ratlos am Kopf gekratzt haben. In der türkischen Politik, in der mit harten Bandagen gekämpft wird, hat die Vorstellung von „Radikaler Liebe“ etwas Hippiemäßiges und Naives.

    Doch Bassoy überzeugte die altehrwürdige und etwas verknöcherte CHP von seiner Strategie – und fand in Imamoglu den idealen Partner. Am Sonntag besiegte Imamoglu mit Bassoys Konzept die bis dahin übermächtig wirkende AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Erdrutschsieg und einem Vorsprung von 800000 Stimmen vor dem AKP-Kandidaten Binali Yildirim.

    Mit einer bewussten Polarisierung der Wähler – wer nicht für mich ist, ist gegen mich – und heftigen Angriffen auf die Gegner hatte Erdogan seit 2002 fast jeden Wahlkampf in der Türkei gewonnen.

    „Wer die Herzen gewinnt, gewinnt auch die Stimmen“, lautet ein Kernsatz in Bassoys Borschüre „Radikale Liebe“. In 14 Punkten erläutert Bassoy in seinem Handbuch ausführlich, wie die CHP-Wahlkämpfer auftreten sollten. Einige seiner Tipps: keine Beleidigungen, keine Unterstellungen, kein erhobener Zeigefinger, keine Besserwisserei, kein Hochmut, weniger reden, mehr zuhören, immer lächeln.

    Anderswo mag es selbstverständlich erscheinen, dass man Wähler nicht beleidigen sollte, wenn man ihre Stimmen will. In der Türkei, in der sich die politischen Lager bisher unversöhnlich gegenüberstanden, ist das radikal und neu. Niemand hat sich dieses Konzept so zu Herzen genommen wie Imamoglu. Als frommer Muslim auch für konservative Türken wählbar, ist Imamoglu ein politisches Ausnahmetalent mit einem feinen Gespür für Stimmungen und Erwartungen.

    Ganz ohne Probleme funktioniert aber auch die „Radikale Liebe“ nicht. Unmittelbar nach Imamoglus Sieg starteten Oppositionsanhänger auf Twitter eine Kampagne, die syrische Flüchtlinge anfeindet. Die Syrer sollen verschwinden, heißt es. Bassoy räumt ein, dass er noch viel zu tun hat.

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