Der kleine Serkan wimmert im Halbschlaf und umklammert die Hand seiner Mutter. Mesale Tolu kann ihren Arm nicht aus dem Kinderwagen ziehen, der Dreijährige soll schließlich nicht aufwachen. „Anders kann er nicht schlafen“, sagt die Mutter und es klingt entschuldigend. „Er hat immer noch Angst, dass wir wieder verschwinden.“ Ihr Ehemann Suat fasst den Griff des Kinderwagens, wippt hin und her, damit Serkan sich beruhigt. Keinen Augenblick lassen die Eltern den Buben mehr alleine, seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurden – Suat Corlu vor sechs Wochen und Mesale Tolu vor dreieinhalb Wochen. Nur zu dritt gehen sie aus dem Haus, damit der Kleine sicher sein kann, dass Mama und Papa, dass beide da sind. „Wir müssen unsere Familie jetzt erst mal wieder aufbauen“, sagt Mesale Tolu. Fast acht Monate lang hat die deutsche Journalistin und Übersetzerin im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy gesessen, neun Monate war sie von ihrem Mann getrennt.
Mesale Tolu wirkt gefasst und ausgeglichen, als man sie und ihre Familie an diesem Nachmittag in einem Straßencafé in Istanbul trifft. Traumatisiert habe sie die Haft nicht, sagt die 33-Jährige. Anders als der Welt-Korrespondent Deniz Yücel war sie nicht in Einzelhaft. Doch die Sorge um ihr Kind habe sie während der gesamten Haftzeit belastet, sagt Mesale Tolu. Über mehrere Monate hatte Serkan zusammen mit seiner Mutter und 17 anderen Frauen in einer Zelle gelebt – mit einem eigenen Bett und nicht mehr als einen kleinen, blauen Ball zum Spielen. Ein paar Mal hatte Mesale Tolus Vater den Enkel abgeholt, damit er den Vater im Gefängnis besuchen kann. Im Oktober dann war Serkan zu engen Verwandten nach Deutschland gebracht worden.
Der kleine Serkan schläft nur, wenn er Mamas Hand halten kann
Jetzt ist die Familie wieder vereint. Noch muss sich Mesale Tolu jeden Montag bei der Polizeiwache melden und eine Unterschrift leisten – als Beleg dafür, dass sie noch immer im Land ist und sich nicht durch Flucht ihrem Prozess entzieht. Vorläufig hat die Familie wieder die Wohnung im asiatischen Stadtteil Kartal von Istanbul bezogen – auch, wenn damit schlimme Erinnerungen verbunden sind. Dort waren in den frühen Morgenstunden des 30. April 2017 maskierte und schwer bewaffnete Polizisten eingedrungen, verhafteten die deutsche Journalistin türkischer Abstammung, rissen ihr den Sohn aus den Armen.
Was die türkische Justiz Mesale Tolu vorwirft
Festnahme: Am 30. April 2017 nehmen Polizisten Tolu in ihrer Wohnung in Istanbul fest, Anfang Mai kommt sie in Untersuchungshaft – ohne die juristische Begründung dafür zu kennen. Ihr Ehemann ist bereits am 5. April inhaftiert worden. Sie wird in das Frauengefängnis in Istanbul gebracht. Ihr Mann Suat Corlu sitzt im Hochsicherheitsgefängnis Silivri, 70 Kilometer westlich von Istanbul, ein.
Anklage: Mitte Juli erhebt die Istanbuler Staatsanwaltschaft Anklage gegen Tolu, die für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha gearbeitet hat. Erst Monate später wird öffentlich, dass die deutsche Journalistin wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der verbotenen linksextremen Partei MLKP vor Gericht steht.
Die Staatsanwaltschaft wirft Mesale Tolu vor, an vier Veranstaltungen teilgenommen zu haben, bei denen Propaganda für die MLKP betrieben worden sei. Darüber hinaus soll sie an Gedenkkundgebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorganisation der kurdischen Terrorgruppe PKK teilgenommen haben.
Prozess: Am 11. Oktober 2017 beginnt der Prozess gegen Mesale Tolu, elf Männer und zwei weitere Frauen. Für die 33-Jährige fordert die Anklage 15 Jahre Haft. Tolu weist die Vorwürfe deutlich zurück. Die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan habe es auf die Pressefreiheit abgesehen, sagt sie und fordert ihre Freilassung und ihren Freispruch. Am 18. Dezember 2017 wurde der Prozess fortgesetzt und Tolu wurde unter Auflagen freigelassen. Auch vier Monate nach ihrer Entlassung beschloss das Gericht am Donnerstag, 26. April 2018, die Ausreisesperre aufrechtzuerhalten. Der Prozess gegen Tolu, ihren Ehemann Suat Corlu und 25 weitere Angeklagte wegen Terrorvorwürfen wird erst am 16. Oktober fortgesetzt.
Pressefreiheit: Zum türkischen „Tag der arbeitenden Journalisten“ im Januar feierte Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Land als Vorreiter der Pressefreiheit. „In Sachen Pressefreiheit, neueste Kommunikationstechnologien, soziale Medien und Internetjournalismus ist die Türkei heute eines der führenden Länder der Welt.“
Eine weltoffene Gesellschaft sei nur mit „freien, transparenten und gerechten Medienorganisationen“ möglich. Worte, die wie Hohn klingen mit Blick auf die Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“. In der belegt die Türkei Platz 155 von 180 erfassten Ländern. Unter anderem, weil nach unterschiedlichen Angaben von Nichtregierungsorganisationen zwischen 39 und 151 Journalisten in türkischen Gefängnissen sitzen – dazu gehörte bis zu seiner Freilassung im Februar 2018 auch der deutsch-türkische Welt-Korrespondent Deniz Yücel.
Doch an diese Stunden will Mesale Tolu nicht mehr denken. Jetzt geht es vor allem um Serkan. Darum, wieder so etwas wie ein normales Familienleben zu führen. Die Eltern unternehmen viele Ausflüge mit dem Buben: auf den Spielplatz, auf die Prinzeninseln, zum Fahrradfahren, selbst Ponyreiten waren sie zuletzt. „Wir dürfen ihn natürlich auch nicht verwöhnen“, sagt Mesale Tolu und lacht. Aber der Nachholbedarf ist groß. „Wir brauchen die Zeit, um uns wiederzufinden.“
Viel mehr können die Tolus ohnehin nicht machen. Arbeiten kommt für die 33-Jährige derzeit nicht in Frage – nicht bei der linken Nachrichtenagentur Etha, wo sie vor ihrer Verhaftung tätig war, und erst recht nicht, weil Serkan im Moment so sehr an seinen Eltern hängt. Zurück nach Deutschland kann das Ehepaar nicht, weil beide Ausreiseverbot haben, solange ihre Gerichtsverfahren andauern. „Ich bin auf freiem Fuß, aber frei bin ich noch nicht“, sagt Mesale Tolu. Ihre Wohnung in Neu-Ulm bleibt deshalb weiter leer; der Kindergartenplatz für Serkan ist nach wie vor reserviert, aber vorläufig unbesetzt. Im März hat Suat Corlu seinen nächsten Gerichtstermin, am 26. April steht seine Frau wieder vor Gericht. Beide hoffen, dass die Ausreisesperre dann aufgehoben wird, wie es in vergleichbaren Fällen für andere Angeklagte der Fall war. Aber sicher ist in diesen Tagen in der Türkei nichts.
Ihr fehlt ihre Geburtsstadt Ulm, die Ruhe, die Herzlichkeit in der Stadt
Für Mesale Tolu, die vor Jahren ihren türkischen Pass abgegeben hat, steht fest, wo ihre Heimat ist – und auch, wo sie leben will, sobald das Ausreiseverbot aufgehoben wird. Ein Jahr ist sie inzwischen aus ihrer Geburtsstadt fort, sie hat Heimweh nach Ulm. „Dieser Alltag in Deutschland: kurz zum Bäcker und dann Kaffee zur Breze oder nachmittags Kaffee und Kuchen“, schwärmt sie. Ein Freund, der neulich aus Deutschland zu Besuch kam, hat ihr zuletzt einen Herzenswunsch erfüllt und frische Brezen mitgebracht. „Auch diese Ruhe in Ulm, die Herzlichkeit – das fehlt mir sehr.“
Mehr denn je zuvor fühlt sich Mesale Tolu mit ihrer Heimat verbunden, seit sie die Welle von Solidarität erlebt hat, die aus Ulm und Neu-Ulm bis in die türkische Gefängniszelle rollte und sie durch die schweren Tage der Haft getragen hat. Anfangs wusste sie nicht einmal davon, bis das deutsche Konsulat nach einigen Wochen Kontakt zu ihr herstellen konnte. Wöchentlich brachten ihr die Konsularbeamten fortan Berichte von den Solidaritätsaktionen in Ulm ins Gefängnis. Sie erhielt Briefe von ihren früheren Lehrern und Mitschülern, von Freunden und deren Eltern, sogar Postkarten von Menschen aus Ulm und Neu-Ulm, die sie gar nicht kennt.
All das habe sie tief bewegt, sagt sie. „Wenn man in der Fremde eingesperrt ist, in einem anderen Land, dann tut es gut zu wissen, dass die eigene Stadt einen so ins Herz geschlossen hat.“ Besonders stolz habe es sie gemacht, dass das Anna-Essinger-Gymnasium in Ulm sie als würdige Absolventin des Wertekanons ausgezeichnet habe, der dort in Erinnerung an die Reformpädagogin gelehrt wird, die jüdische Kinder gegen das Dritte Reich verteidigte.
Die Türkei habe wohl nicht damit gerechnet, dass Deutschland so stark für seine Bürger mit Migrationshintergrund eintreten werde, meint Mesale Tolu. „Dass eine kleine Stadt wie Ulm aufgestanden ist und sich hinter mich gestellt hat, das zeigt, dass sich da etwas geändert hat.“ Es macht ihr Mut, dass die deutsche Gesellschaft nicht nur Solidarität für den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner gezeigt habe, als dieser in der Türkei in Haft kam, sondern auch mit dem deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und ihr selbst. „Das bestätigt uns auch in der Identität als Deutsche“, sagt sie. „Wenn man sich so von der Heimat ins Herz geschlossen fühlt, dann weiß man: Ich sehe nicht nur Deutschland als meine Heimat, sondern Deutschland nimmt mich auch an.“
Sie will, dass ihr Sohn in Deutschland aufwächst
Ungeduldig wartet sie nun auf die Ausreiseerlaubnis, damit Serkan nicht noch mehr Zeit verliert und möglichst bald in der Heimat den Kindergarten besuchen kann. Denn eines steht für sie felsenfest: „Ich will, dass mein Sohn in Deutschland aufwächst und seine Bildung dort erfährt.“
Mesale, die Jüngste von drei Geschwistern, hat in Ulm Abitur gemacht, später in Frankfurt am Main Spanisch und Philosophie studiert. Anfangs wollte sie Lehrerin werden, fand dann aber immer mehr Gefallen an Sprachen. Mesale Tolu wurde auf Deutsch erzogen, Türkisch sprach sie als Kind nur wenig. Schon vor dem Abitur polierte sie ihre Sprachkenntnisse so gut auf, dass sie – anders als viele Deutsch-Türken – in der Türkei nicht damit auffiel. Ihr Englisch war schon in der Schule gut, Spanisch kam im Studium dazu. Für Mesale Tolu lag es nah, nach der Uni als Übersetzerin zu arbeiten.
Sie engagierte sich in verschiedenen Migrantenorganisationen, trat gegen Rassismus und Sexismus ein, heiratete in Frankfurt ihren Mann Suat. 2014 meldete er sich freiwillig für ein Jahr zum Wahlkampf der Kurdenpartei HDP in der Türkei. Es waren hoffnungsvolle Tage am Bosporus: Die Regierung verhandelte damals mit den Kurden über einen dauerhaften Frieden, die HDP setzte zum Einzug ins Parlament und vielleicht sogar zur Koalition mit der Regierungspartei AKP an. Mesale Tolu fühlte sich auch angesprochen, schließlich ist sie selbst kurdischer Abstammung: Ihre kurdischen Großeltern emigrierten aus dem osttürkischen Maras nach Ulm, auch ihre Eltern sprachen Kurdisch noch als Muttersprache. „Wenn die Familie seit Jahrzehnten diese Unterdrückung erlebt hat, dann ist einem das schon bewusst, auch wenn man in Deutschland aufwächst“, sagt Mesale Tolu. „Und Diskriminierung als Türkin erfährt man als Kurdin auch in Deutschland.“
Tolu war damals schwanger, pendelte zwischen Neu-Ulm und Ulm, wo ihre Familie lebte, und Istanbul hin und her. Sie begann, bei ihren Besuchen in der Türkei für die linke Nachrichtenagentur Etha Artikel aus der Weltpresse zu übersetzen und dann auch eigene Interviews zu führen. 2015 zog die HDP tatsächlich ins Parlament ein, doch danach ging es schnell bergab. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ließ die Wahl annullieren, die politische Gewalt eskalierte.
Mesale Tolu sah es zwar geschehen, fühlte sich aber nicht gefährdet. „Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich mal inhaftiert werden kann“, erzählt sie. „Weil ich anders aufgewachsen bin; in einem Land, in dem freie Meinungsäußerung der höchste Wert ist – und dann war ich in einem Land, wo das auf einmal zum Verbrechen wurde.“ Das hat sie schockiert. Zerbrochen aber ist sie nicht daran, fügt sie stolz hinzu.
Nun richtet sich Mesale Tolus Blick nach vorne, auf den nächsten Gerichtstermin und auf den Freispruch, für den sie weiter kämpfen will. „Wenn ich dann zurück bin in Ulm, dann will ich sofort in die Innenstadt und einfach nur dort herumlaufen“, sagt sie. „Und an der Donau spazieren gehen.“
Eine Bitte hat sie vorher noch an ihre Landsleute. „Bitte schaut weiterhin nicht weg, sondern hin“, sagt sie mit Blick auf die vielen Journalisten, die in der Türkei hinter Gittern sitzen – weit über 100 an der Zahl. Viele Menschen in Deutschland hätten ihretwegen vielleicht erstmals eine Postkarte in ein türkisches Gefängnis geschickt und ihr damit viel Mut gemacht, sagt Mesale Tolu. „Ich wünsche mir, das würde man weiterführen.“
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