Mesale Tolu ist dünner geworden, seit sie vor zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das sei aber erst in den letzten zehn Tagen passiert, erzählt die Journalistin bei einem Treffen auf dem asiatischen Ufer des Bosporus: Ihr Sohn Serkan geht seit letzter Woche in den Kindergarten, und die Eingewöhnung des traumatisierten Dreijährigen dort hat ihr körperlich mehr zugesetzt als acht Monate in türkischer Untersuchungshaft. In Neu-Ulm wartet noch immer ein reservierter Platz im Kindergarten auf Serkan, aber Mesale Tolu und ihr Mann Suat Corlu wollen jetzt erst einmal Stabilität für das Kind schaffen. Schließlich könne sie nicht fest damit rechnen, dass ihr Ausreiseverbot beim nächsten Prozesstermin im April aufgehoben werde, meint Tolu. „Hinter mir steht schließlich nicht der Springer-Verlag“, sagt sie und lacht.
Aus dem Fernsehen hat von der Freilassung von Deniz Yücel erfahren und seiner Ausreise aus der Türkei. „Überglücklich“ sei sie für Yücel gewesen, sagt die 33-Jährige, die ihm noch einen Solidaritätsbrief geschrieben hatte, als sie noch in Untersuchungshaft saß. Ob es bei den jüngsten Bemühungen des Bundesaußenministers für Yücel auch um ihren Fall gegangen ist, weiß sie indessen nicht. Eher nicht, vermutet sie: „Wenn man eine Linke ist, dann ist klar, dass das nicht dasselbe ist, wie wenn man für Springer und Die Welt arbeitet.“
Sie versucht, ihrem Sohn Stabilität zu geben
Vorläufig versuchen Mesale Tolu und ihr Mann deshalb, für ihren Sohn ein Leben in der Türkei aufzubauen, ihm einen geregelten Alltag und Spielkameraden zu verschaffen. Wenn sie im April dann doch die Ausreiseerlaubnis erhalte, werde es ihm ja nichts geschadet haben, zwei Monate in den türkischen Kindergarten gegangen zu sein, meint sie. „Und wenn ich dann weiter nicht ausreisen darf, habe ich wenigstens einen Platz, an dem mein Sohn sich sicher fühlt.“ Der Kindergarten, den sie und ihr Mann ausgesucht haben, wird von einem Psychologen geleitet, der die Familie bei der Eingewöhnung des kleinen Jungen unterstützt. Das funktioniert offenbar recht gut: Serkan, der noch vor ein paar Wochen nicht einmal die Hand seiner Mutter loslassen wollte, weil er durch die Trennung während ihrer Haftzeit so verstört war, bleibt während des Treffens erstmals zwei Stunden ohne sie im Kindergarten.
Dabei hätte es kürzlich fast einen schweren Rückschlag für den Jungen gegeben, als die Wohnung der Familie schon wieder von der Polizei gestürmt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte Suat Corlu sieben Wochen nach seiner Haftentlassung wieder zur Festnahme ausgeschrieben, um seine Aussage zu einer ähnlichen Angelegenheit einzuholen – als hätte sie während seiner Haftzeit nicht genug Gelegenheit dazu gehabt, meint Tolu. Anders als bei der letzten Razzia, als ihr das verstörte Kind aus den Armen gerissen wurde, konnten die Eltern diesmal die Polizisten überreden, Serkan in Ruhe zu lassen. „Ich bin an seinem Bett sitzen geblieben, damit er nicht aufwacht, während mein Mann abgeführt wurde“, erzählt sie. Erst als die Polizisten mit Suat im Hausflur unten waren, lief sie hinaus und rief ihrem Mann nach: „Wir sehen uns wieder!“
Dem Kind erzählte sie am nächsten Morgen, der Papa sei für ein paar Tage zur Oma gefahren. Doch Corlu wurde inzwischen nach Ankara geschafft, wo er acht Tage in Polizeihaft blieb - bis die Staatsanwaltschaft entschied, dass sie ihn doch nicht anhören wolle, und ihn wieder freiließ. Als Corlu herauskam, warteten Mesale Tolu und Serkan schon draußen; der kleine Junge glaubte, er hole den Vater vom Flughafen ab.
Dem Kind die Angst zu nehmen, indem sie für ihn da ist, das beansprucht den Großteil der Zeit von Mesale Tolu. Daneben hat sie angefangen, von zu Hause aus wieder zu arbeiten, sowohl für die türkische Agentur Etha, für die sie schon früher schrieb und übersetzte, als neuerdings auch mit Artikeln über Pressefreiheit für deutsche und österreichische Medien. Das Leben müsse auch während der Prozessdauer weitergehen, sagt Tolu. „Ich kann nicht ständig so leben, als würde ich morgen ausreisen.“
Tolu musste bereits wieder vor Gericht erscheinen
Denn ihre Lage ist noch immer ungewiss. Anders als Yücel und anders als der im Herbst freigelassene deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner bekommt sie tatsächlich den Prozess gemacht – an zwei Verhandlungstagen musste sie sich bereits vor Gericht verteidigen. Und anders als Yücel und Steudtner besteht gegen sie weiterhin Ausreiseverbot. „Ich weiß nicht, was bei ihnen anders ist als bei mir“, sagt sie.
Beklagen will sich Mesale Tolu dennoch nicht. „Ich fühle mich nicht benachteiligt“, sagt sie – im Gegenteil fühle sie sich überaus privilegiert, ihren Unterstützerkreis in Ulm hinter sich zu wissen, der sich auch nach der Haftentlassung für sie einsetze. „Und dann sind hier ja noch über 150 weitere Journalisten inhaftiert, für die sich auch kein großer Verlag einsetzt.“ Außerdem genieße sie auch einen Vorteil gegenüber Yücel, der offenbar in der Türkei bleiben wollte und es nicht durfte: „Ich darf noch hier sein.“
Sollte die Ausreisesperre aufgehoben werden, will Tolu zurückkehren, vor allem um ihres Kindes willen. „Ich will, dass mein Sohn in Deutschland aufwächst, eine deutsche Erziehung bekommt, die deutsche Sprache lernt und ein soziales Umfeld in Deutschland hat – so wie ich auch“, sagt sie. Der Kindergartenplatz in der Heimat bleibt deshalb für Serkan reserviert. Doch selbst wenn Tolu irgendwann ausreisen darf, kommt das nächste Problem auf sie zu: Soll sie dann zum Urteilstermin in die Türkei reisen – und riskieren, dass sie doch noch eingesperrt wird? Oder soll sie dem Prozess fernbleiben – und dann nie wieder in die Türkei einreisen dürfen? Die Antwort wäre einfacher, wenn ihr Mann nicht türkischer Staatsbürger wäre, der nicht ausreisen darf aus seinem Heimatland.
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