Mehr als 27 Jahre Haft für einen Zeitungsartikel: Mit dem Urteil eines Istanbuler Gerichts gegen den Journalisten Can Dündar hat die Verfolgung von Regierungsgegnern in der Türkei am Mittwoch einen neuen Höhepunkt erreicht. Dündars Anwälte verglichen die Entscheidung mit Nazi-Urteilen. Die Regierung habe das Urteil gegen den im Berliner Exil lebenden Dündar schon vorher festgelegt und vom Gericht lediglich verkünden lassen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Dündar mehrfach als "Agenten" vorverurteilt. Er wies am Mittwoch auch ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtes in Straßburg zurück, das in höchster Instanz die Freilassung des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas verlangt hatte. Als Konsequenz dürfte jetzt der Ausschluss der Türkei aus dem Europarat auf die Tagesordnung kommen, wie der SPD-Menschenrechtspolitiker Frank Schwabe unserer Redaktion sagte. Erdogan sei dabei, die "rote Linie" des Europarats zu überschreiten.
Dündar war Chefredakteur der türkischen Oppositionszeitung Cumhuriyet
Dündar hatte in der Oppositionszeitung Cumhuriyet im Mai 2015 über illegale Waffenlieferungen der Türkei an syrische Rebellen berichtet. Das werde er noch bereuen, sagte Erdogan damals. Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurde Dündar Anfang 2016 auf Anordnung des türkischen Verfassungsgerichtes freigelassen; kurz darauf entkam er knapp einem Mordanschlag während eines Gerichtsverfahrens. Dündar wurde damals zu knapp sechs Jahren Haft verurteilt, konnte aber nach Deutschland fliehen. Der türkische Berufungsgerichtshof ordnete in seiner Abwesenheit ein neues Verfahren an, das am Mittwoch mit der Haftstrafe von 27 Jahren und sechs Monaten endete. Das Gericht erließ zudem einen neuen Haftbefehl gegen Dündar. Deutschland dürfte ihn jedoch nicht an die Türkei ausliefern.
Indirekt räumte die 14. Istanbuler Schwurgerichtskammer in ihrem Urteil ein, dass Dündar mit seinem Vorwurf der illegalen Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen recht gehabt haben könnte: Der Journalist erhielt 18 Jahre und neun Monate Haft, weil er sich geheime Informationen "mit dem Ziel der Spionage" beschafft habe. Zu der Haftstrafe kamen acht Jahre und neun Monate Gefängnis wegen angeblicher Unterstützung von Terrororganisationen: Mit dem Artikel habe Dündar die Türkei als Land präsentiert, das den Terrorismus unterstütze, und auf diese Weise den Zielen anti-türkischer Terrorgruppen gedient.
Erdogan-Kritiker sehen in der Entscheidung weiteren Beweis für fehlende Rechtsstaatlichkeit der Türkei
Dündars Anwälte boykottierten die Urteilsverkündung. Sie warfen dem Gericht vor, auf politische Weisung der Regierung gehandelt und die Rechte des Angeklagten verletzt zu haben. So habe das Gericht mehrmals ohne die Verteidigung über den Fall beraten. Wie die Nazi-Justiz die Juden für rechtlos erklärt habe, sollten auch ihrem Mandanten alle Rechte aberkannt werden. Die Justiz hatte bereits zuvor Dündars Haus in der Türkei beschlagnahmt und sein Vermögen eingezogen.
Kritiker der Erdogan-Regierung sehen die Entscheidung im Fall Dündar als weiteren Beweis dafür, dass sich die Türkei immer mehr von europäischen Rechtsnormen entfernt. Der Straßburger Menschenrechtshof hatte am Dienstag die Freilassung des Kurdenpolitikers Demirtas gefordert, der seit mehr als vier Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Demirtas werde aus politischen Gründen in Haft gehalten, erklärten die Europarichter. Das Straßburger Gericht verlangt auch die Freilassung des Demokratie-Aktivisten Osman Kavala, der seit mehr als drei Jahren im Gefängnis sitzt. Wie Dündar waren Demirtas und Kavala von Erdogan öffentlich als Staatsfeinde denunziert worden.
Die Türkei steht kurz vor dem Rauswurf aus dem Europarat
Als Mitglied des Europarates ist die Türkei verpflichtet, die Urteile aus Straßburg umzusetzen. Bei Demirtas und Kavala lehnt Ankara das jedoch ab. Das Urteil im Fall des Kurdenpolitikers sei politisch motiviert und heuchlerisch, sagte Erdogan am Mittwoch. Der Präsident fürchtet Demirtas als politischen Konkurrenten und will ihn deshalb unter allen Umständen hinter Gittern halten. Erdogans Regierung kann sich auf willfährige Richter verlassen, weil sie das Aufsichtsgremium über die Justiz kontrolliert; von einem Rechtsstaat in der Türkei kann nach Einschätzung der EU keine Rede mehr sein.
Im Europarat, einem Zusammenschluss von 47 europäischen Staaten mit dem Ziel der Stärkung von Menschenrechten und Rechtsstaat, steht die Türkei deshalb kurz vor dem Rauswurf. "Die Parlamentarische Versammlung des Europarats könnte schon im April ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei in Gang setzen", sagte Schwabe, der menschenrechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. "Wenn das Verfahren einmal begonnen hat, dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder die Türkei setzt die Urteile um, oder es folgt der Ausschluss." Nach Einschätzung von Schwabe hat Erdogan keinen Bewegungsspielraum in dieser Frage. "Die Umsetzung von Urteilen ist die rote Linie des Europarats. Erdogan muss wissen: Da ist die Grenze."
Lesen Sie dazu auch:
- Nach Erdogan-Beleidigung: Deutscher Arzt darf nach Hause
- Abschiebung droht: Erdogan-Fan Akyüz will nicht in der Türkei leben
- Nach Umwandlung in Moschee: Christliches Mosaik in Hagia Sophia zu sehen
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.