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Türkei: Erdogan muss andere jubeln lassen

Türkei

Erdogan muss andere jubeln lassen

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    Erdogan hatte die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen, obwohl der Präsident zu Neutralität verpflichtet ist.
    Erdogan hatte die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen, obwohl der Präsident zu Neutralität verpflichtet ist. Foto: Tolga Bozoglu (dpa)

    Wie zu einer Beerdigung versammelt sich die Führungsriege der türkischen Regierungspartei AKP am späten Sonntagabend auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara, vor dem ihre ratlose Anhängerschaft wartet. Traurig, kraftlos wirken die Parteioberen. Selbst der sonst stets lächelnde Regierungssprecher Bülent Arinc sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen.

    Derweil müht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ab, so zu tun, als habe seine Partei gerade einen neuen strahlenden Sieg errungen. Dabei hat die AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren und einer unvergleichlichen Siegesserie unerwartet die Regierungsmehrheit verloren. Nach vorläufigen Ergebnissen kam die AKP auf 40,9 Prozent – nach knapp 50 Prozent vor vier Jahren. Die Mitte-Links Partei CHP hielt ihre Stellung als zweitstärkste Partei und kam auf rund 25 Prozent, die ultrarechte MHP verbesserte sich auf gut 16 Prozent und die pro-kurdische HDP schaffte sensationell mit 13 Prozent erstmals den Sprung ins Parlament.

    Erdogan ist nirgendwo zu sehen

    Schon in guten Zeiten ist Davutoglu kein mitreißender Redner. Jetzt aber springt überhaupt kein Funke mehr über. Die Menge der AKP-Aktivisten vor dem Gebäude jauchzt nur ein einziges Mal auf – als Davutoglu den Namen Erdogan erwähnt. Doch der Präsident, der in den Wochen des Wahlkampfs allgegenwärtig war, fehlt auf dem Balkon, und er ist auch sonst nirgendwo zu sehen.

    Mehr als 40 Prozent Stimmen für eine Partei, die seit mehr als einem Jahrzehnt regiert, sind eigentlich ein stolzes Ergebnis. Zur Niederlage wurde das Resultat durch die völlig überzogenen Ziele, die Erdogan der AKP gesetzt hatte. Eine überwältigende Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte er gefordert, um damit Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems durchsetzen zu können. Die Neue Türkei brauche einen starken Mann an der Spitze, lautete sein Argument, mit dem er im Wahlkampf für die AKP auftrat – obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt.

    Doch am Wahltag stürzte die AKP ab und wurde im Parlament auf 258 Abgeordnete zurückgestutzt. Erdogans Traum zerplatzte. Wie der Präsident reagierte, berichtet auf Twitter „Fuat Avni“, ein normalerweise sehr gut informiertes Mitglied des engeren Zirkels um den Präsidenten, das zum Erdogan-Gegner mutiert ist. Der Präsident sei in Schockstarre wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben, schreibt „

    In Ankara beginnt am Montag die schwierige Suche nach einer einigermaßen stabilen Regierungskoalition, während in Istanbul die Börse abschmiert und der Lira-Kurs in den Keller rutscht. Erdogan bleibt verschwunden. Immerhin, sagen einige Erdogan-Gegner: Der Präsident nimmt das Wahlergebnis an.

    Fügt sich Erdogan seinem Schicksal?

    Stimmt das wirklich? Fügt sich der Kämpfer Erdogan in sein Schicksal? Manche glauben nicht daran. Der Präsident müsse sich entscheiden, ob er sich an die Spielregeln der Verfassung halten wolle oder nicht, sagt der Meinungsforscher Tarhan Erdem. Wenn er weiter alle Andersdenkenden ausgrenze, werde es unmöglich, zwischen den Parteien einen Kompromiss für eine Koalition zu finden.

    Das wird ohnehin schwierig genug. Die Nationalistenpartei MHP, die als potenzieller Regierungspartner der AKP gehandelt wird, bereitet laut Presseberichten einen Gesetzentwurf vor, mit dem Erdogan gezwungen werden soll, aus seinem ebenso prunkvollen wie umstrittenen Palast in Ankara auszuziehen. Die Kurdenpartei HDP als Shootingstar der Wahl mit ihren immerhin 82 Abgeordneten will ohnehin nichts mit Erdogan zu tun haben. Einige Beobachter spekulieren über eine Minderheitsregierung von MHP und der säkularistischen CHP, die von der HDP im Parlament geduldet würde.

    Manche glauben bereits: Die Ära Erdogan ist vorbei.

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