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Türkei: "Die größte Hexenjagd" in der türkischen Geschichte

Türkei

"Die größte Hexenjagd" in der türkischen Geschichte

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    Der Staatspräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, greift im Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hart durch: Schulen müssen schließen, der Polizeigewahrsam wird verschärft.
    Der Staatspräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, greift im Ausnahmezustand nach dem Putschversuch hart durch: Schulen müssen schließen, der Polizeigewahrsam wird verschärft. Foto: Turkish Presidential Press Offic (dpa)

    Seit dem Putschversuch in der Türkei hängen an jeder Straßenecke in Istanbul Plakate, auf rotem Hintergrund mit Halbmond und Stern steht in weißen Lettern: "Hakimiyet Milletindir". Das lässt sich in etwa mit "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" übersetzen, wie es auch im Grundgesetz der Bundesrepublik verankert ist. Tatsächlich liegt unter dem Ausnahmezustand in der Türkei so gut wie alle Macht bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Am Wochenende machte Erdogan erstmals von dem Recht Gebrauch, per Dekret durchzugreifen. 

    Mehr als 13 000 Menschen sind seit dem Putschversuch festgenommen worden. Erdogan verfügte nun, dass Verdächtige bis zu 30 Tage in Polizeigewahrsam gehalten werden können, bislang mussten sie binnen vier Tagen einem Haftrichter vorgeführt werden. Allerdings dürfte derzeit ein eklatanter Mangel an Richtern und Staatsanwälten herrschen, von denen mehr als 1500 selber in Untersuchungshaft sitzen. Sie gehören zu den insgesamt fast 6000 Verdächtigen, gegen die im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch Haftbefehl erlassen wurde.

    Aus Sicht Erdogans ist Fethullah Gülen der Drahtzieher des Putschversuchs

    Ihnen werden Verbindungen zum Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen, aus Sicht Erdogans der Drahtzieher des Putschversuches. Offenbar hält Erdogan sogar seine eigene Präsidentengarde für unterwandert, fast 300 ihrer Soldaten wurden festgenommen. Ministerpräsident Binali Yildirim kündigte die Auflösung der gesamten Elite-Einheit an. 

    Erdogan lässt zudem mehr als 2300 Einrichtungen schließen, die aus Sicht der Regierung zum Gülen-Netzwerk gehören, darunter mehr als 1000 private Schulen. Mehr als 45.000 Staatsbedienstete wurden bislang suspendiert. Wem Verbindungen zu Gülen nachgewiesen werden, der hat per Dekret keine Chance auf Rückkehr in den öffentlichen Dienst. 21.000 Lehrern an Privatschulen wurde die Lizenz entzogen. Nur Stunden nach Verhängung des Ausnahmezustands am Donnerstag setzte die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise außer Kraft. Sendelizenzen werden entzogen, Webseiten gesperrt. 

    Aus Sicht der Regierung sind das alles notwendige Maßnahmen, um "Metastasen" (Erdogan) aus dem Staatsapparat zu entfernen. Beweise dafür, dass Gülen hinter dem Putschversuch aus Teilen des Militärs steckt, bleibt die Regierung bislang aber schuldig - sie verweist auf die kommenden Gerichtsprozesse. Unabhängig vom Umsturzversuch und dem harten Vorgehen hat die Unterwanderung aber einen realen Hintergrund.

    Ist die Gülen-Bewegung gefährlicher als die Islamische Staat?

    Bereits in den 1990er Jahren begann die Gülen-Bewegung damit, ihre oft gut ausgebildeten Leute in staatlichen Stellen zu installieren. Lange Zeit waren Gülen und Erdogan Verbündete, Gülen-Anhänger ebneten Erdogan den Weg an die Macht. Westliche Sicherheitsexperten schätzen, dass zeitweise weit mehr als die Hälfte der Polizisten in der Türkei Verbindungen zur Gülen-Bewegung hatten. 

    In der Justiz stellten bislang auch Erdogan-kritische Juristen den Einfluss Gülens nicht in Frage. Und schon 2014 - im Jahr nach dem offenen Zerwürfnis zwischen Erdogan und Gülen - gab es Medienberichte über Spannungen zwischen Regierung und Armeeführung wegen einer Unterwanderung auch der Streitkräfte. 

    Der türkische EU-Minister Ömer Celik nennt Gülen gefährlicher als den vor fünf Jahren getöteten Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, die Bewegung des Predigers gefährlicher als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Celik sagt nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, Ziel des Ausnahmezustands sei es, "die Demokratie zu schützen, den Rechtsstaat zu schützen, die Rechte und Freiheiten unserer Bürger zu schützen und den Frieden in unserem Land zu schützen". 

    Der Graben zwischen der Türkei und der EU vertieft sich

    Die Regierung in Ankara fühlt sich zutiefst missverstanden von der EU, in der angesichts des harten Vorgehens Erdogans die Rufe nach einem Ende des Beitrittsprozesses lauter werden. Mit jedem Tag vertieft sich der Graben zwischen Europa und der Türkei. Und mit jedem Tag verschärft sich die Polarisierung in der Türkei. 

    Kritiker wie der Chefredakteur der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, werfen Erdogan "die größte Hexenjagd in der Geschichte der Republik" vor. Dündar hält sich derzeit in Europa auf und dürfte sich hüten zurückzukehren, er befürchtet seine Festnahme. Der Journalist fragt in einem Gastbeitrag für den britischen "Guardian": "Wir sind von einem Militärputsch befreit, aber wer schützt uns vor einem Polizeistaat?" Dündar appelliert an die EU, nicht erneut die Augen zu verschließen, sondern Partei "für eine moderne Türkei" zu ergreifen. 

    Mehr als ein Drittel aller Generäle der Türkei sitzt in Untersuchungshaft

    Ministerpräsident Yildirim kündigte am Freitag an: "Es ist nun die Zeit der Säuberung." Welche Auswirkungen die Maßnahmen haben werden, ist noch gar nicht abzusehen. Wie sollen diejenigen, die ihre Jobs verlieren, ihre Familien ernähren? Wer wird Kinder an den betroffenen Schulen nach den Sommerferien unterrichten? Werden die vielen Terroranschläge nun noch zunehmen, wenn die Sicherheitskräfte durch Massenfestnahmen und Suspendierungen geschwächt sind? 

    Angesichts der dramatischen Entwicklung gerät fast in Vergessenheit, dass im Südosten der Türkei bereits lange vor dem Putschversuch bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Die Armee ging mit einer Offensive gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor. Vor allem zuständig dafür war der Kommandeur der Zweiten Armee, Vier-Sterne-General Adem Huduti. Huduti gehört zu 123 Generälen, gegen die wegen des Putschversuches Haftbefehl erlassen wurde. 

    Damit sitzt mehr als ein Drittel der Generäle des Nato-Partners Türkei - an dessen Südgrenze die Terrormiliz IS ihr Unwesen treibt - derzeit in Untersuchungshaft. "Keiner kann behaupten, dass die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte nicht geschwächt ist", sagt ein Offizier eines westlichen Nato-Staates, der die türkische Armee gut kennt. "Das hat eklatante Auswirkungen." dpa

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