Wer in der Türkei einkaufen geht, muss sich beeilen. Ein Gemüsehändler in der Istanbuler Innenstadt kommt mit den Preisschildern kaum nach, so schnell steigen die Einkaufspreise. Er hat kaum eine Wahl. Seine Stromrechnung im Laden, vor nicht allzu langer Zeit noch bei 150 Lira, ist in kurzer Zeit über mehrere Schritte auf fast tausend Lira gestiegen – „denken Sie mal, tausend Lira!“ Tausend Lira sind fast ein Drittel des türkischen Mindestlohns, mit dem die Hälfte der Beschäftigten in der Türkei auskommen muss. Auch zu Hause steigen die Ausgaben für den Grundbedarf ständig, erzählt der Gemüsehändler. Das gesamte Gehalt eines Bekannten reiche gerade noch für seine Gasrechnung.
Seit Jahresbeginn hat die Lira mehr als ein Drittel ihres Wertes gegenüber Euro und Dollar verloren, allein seit Wochenbeginn stürzte der Kurs um zehn Prozent ab. Die Inflation liegt offiziell bei 20 Prozent, doch viele Normalbürger und unabhängige Experten beobachten, dass ihr Geld in Wirklichkeit noch viel schneller dahinschmilzt. Deshalb sparen die Leute, wo sie können.
Selbst der Friseurbesuch in der Türkei wird ein finanzieller Kraftakt
Selbst den regelmäßigen Friseurbesuch schenken sich viele Türkinnen und Türken inzwischen, um das Geld zusammenzuhalten. Die Istanbuler Bäcker denken über eine kräftige Erhöhung der Brotpreise nach. Die Mieten sind innerhalb eines Jahres um mehr als 20 Prozent gestiegen, die Preise für Nahrungsmittel um fast 30 Prozent. Zugleich sinkt der Wert des Einkommens, den die meisten Türken zur Verfügung haben: Anfang des Jahres entsprach der Mindestlohn mehr als 300 Euro, heute sind es noch 200 Euro. Wie kommen die Leute da noch über die Runden? Der Gemüsehändler zuckt mit den Schultern. „Kreditkarten überziehen und auf Pump leben, so lange es noch geht.“
Größere Anschaffungen kommen oft nicht mehr in Frage
Größere Anschaffungen kommen deshalb für viele nicht mehr infrage. Früher hätten sich Leute aus der unteren Mittelschicht einen gebrauchten Laptop gekauft, weil sie sich keinen neuen leisten konnten, erinnert sich ein Istanbuler Computerhändler. Heute seien selbst gebrauchte Geräte unerschwinglich. Das hat auch Folgen für ihn selbst: Für den Ertrag, den er früher mit einer Stunde Arbeit erzielt habe, müsse er heute fünf Stunden arbeiten. „Ich hab’ diese Krise satt“, sagt der Mann.
Wer noch Geld übrig hat, legt seine Lira in Gold an oder tauscht sie in Dollar, um seine Ersparnisse in Sicherheit zu bringen. Die Goldpreise sind deshalb auf einem Allzeit-Hoch. Die Verbraucher haben zudem rund 240 Milliarden Dollar in Fremdwährung unter den Kopfkissen, so viel wie noch nie: Der Dollar ist zur eigentlichen Währung in der Türkei geworden, an der sich alle orientieren.
Die Opposition und viele Experten sehen die Schuld bei Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Staatschef ist überzeugt, dass die Leitzinsen sinken müssen, um die Inflation zu bekämpfen – die allermeisten Fachleute sagen im Gegenteil, dass eine hohe Inflation mit Zinserhöhungen bekämpft werden muss. Auf Druck von Erdogan hat die türkische Zentralbank in den vergangenen Monaten mehrmals die Zinsen gesenkt, was den Absturz der Lira beschleunigte. Semih Tümen, ein von Erdogan gefeuerter ehemaliger Vizechef der Zentralbank, nennt den Kurs des Präsidenten ein „irrationales Experiment ohne Aussicht auf Erfolg“.
Erdogan gibt trotzdem weiter Vollgas. Die nächste Zinssenkung wird schon im Dezember erwartet. Der Präsident will mit möglichst niedrigen Zinsen die Konjunktur ankurbeln, um rechtzeitig vor den nächsten Wahlen in anderthalb Jahren die Arbeitslosigkeit bekämpfen zu können. Warnungen von Experten, dass er mit der hohen Inflation und dem Währungsverfall die Menschen in die Armut treibt, schlägt er in den Wind . Hinter den Problemen will er vielmehr ein internationales Komplott gegen die Türkei erkannt haben. Deshalb rief er jetzt einen „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“ aus, den er „mit Gottes Hilfe und Unterstützung der Nation“ gewinnen will.
Viele Wähler und Wählerinnen sehen keine Alternative zu Erdogan
Auch wenn sich solche Töne absurd anhören: Viele Türken glauben dem Präsidenten und halten zu ihm. „Das Ausland hat es nicht gern, wenn die Türkei stark wird“, sagt ein Schreiner. Hinzukommt, dass viele Wähler keine Alternative zu Erdogan sehen. Nach einer Umfrage des angesehenen Instituts MetroPoll trauen zwei von drei Wählern der Opposition nicht zu, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen.