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Triage in Deutschland: Wie hoch ist die Gefahr wegen Corona?

Intensivstationen

Ex-DIVI-Präsident Janssens warnt vor Debatte um Triage auf Intensivstationen

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    Mitarbeiter auf der Salzburger Intensivstation: Die Triage-Mitteilung hat die Öffentlichkeit aufgeschreckt.
    Mitarbeiter auf der Salzburger Intensivstation: Die Triage-Mitteilung hat die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Foto: Barbara Gindl, dpa

    Uwe Janssens klingt müde nach einem langen Tag auf der Intensivstation. Seit Corona und seiner Zeit als Präsident der Intensivmediziner-Vereinigung Divi zählt der eloquente Professor aus Eschweiler zu den bekanntesten Vertretern seiner Zunft. „Ich mag den Film ,Und täglich grüßt das Murmeltier‘ sehr, aber inzwischen fühle ich mich wie Bill Murray, wenn ich selber am Morgen im Radio die Pandemie-Nachrichten höre und an die vergangenen Wellen denke“, erzählt Janssens. Der 61-Jährige klingt hörbar frustriert darüber, dass die

    Am schlimmsten ist die Lage im Süden und Osten der Republik. In Bayern gibt es kaum noch freie Intensivbetten. Covid-Patienten werden sogar bis nach Südtirol verfrachtet, um Platz für Neuaufnahmen auf den Intensivstationen zu schaffen. Aufsehen erregte die Nachricht aus Salzburg, dass die Landeskliniken bereits ein Triage-Team zusammengestellt haben, das im Notfall entscheiden soll, welcher Patient oder welche Patientin noch einen Platz auf der Intensivstation bekommt und wer bei weniger Erfolgsaussichten nur Maßnahmen erhält, die man im Normalfall als Sterbebegleitung bezeichnen würde.

    Triage-Gedankenspiele in München, Augsburg und Günzburg

    München, Augsburg, Günzburg: Auch aus bayerischen Kliniken bestätigen Ärzte ganz offen, dass sie sich derzeit auch Gedanken darüber machen, wie sie die Triage auf ihren Intensivstationen organisieren könnten, wenn die Zahl der Covid-Patientinnen und -Patienten weiter so steigt wie bisher.

    Sie greifen dabei alle zu einem Papier, dass Intensivmediziner Janssens im vergangenen Frühjahr mit vielen Fachkollegen und Medizinethikern als Divi-Empfehlung veröffentlicht hat: „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ trägt das nur 14 Seiten inklusive Ausfüllbogen dünne Dokument, das über Leben und Tod mitentscheiden könnte.

    Wichtig war den Medizinern bei der Leitlinie, dass nicht nach Alter entschieden wird, sondern allein nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Auch soziale Merkmale, Grunderkrankungen oder Behinderungen dürften nicht Entscheidungsgrundlage sein. Zudem gilt die Triage nicht nur für Corona-Patienten, sondern für alle Menschen, die wegen Krankheiten oder Unfällen auf der Intensivstation landen. Im Schnitt haben Letztere dabei eher bessere Erfolgsaussichten, denn bei Covid-Patienten ist die Überlebensrate geringer: Knapp jeder dritte Corona-Intensivpatient stirbt nach wie vor, Männer haben dabei schlechtere Karten als Frauen.

    Triage-Leitfaden nicht für heutige Situation entworfen

    „Die Mitteilung aus Salzburg, dass dort ein Mediziner-Komitee unter Einbeziehung eines Juristen sich für den Fall einer Ressourcenknappheit des Themas Triage annimmt, hat auch die Öffentlichkeit bei uns aufgeschreckt“, sagt Intensivmediziner Janssens. Doch er betont, dass die Triage-Empfehlungen der Divi eigentlich nie für die heutige Pandemiephase entwickelt wurden: „Wir haben uns im Frühjahr 2020 angesichts der katastrophalen Situation in Bergamo und anderswo in Europa relativ früh zu Beginn der Pandemie entschlossen, eine Stellungnahme zu schreiben und Empfehlungen ähnlich zur Triage in der Katastrophenmedizin zu geben“, sagte er. „Es ging darum, was wäre, wenn es bei uns passieren würde, dass wie in

    Tatsächlich war auch die Nachricht aus Salzburg ein verzweifelter Warnschuss der Mediziner an die Politik. Die Landesregierungen von Salzburg und Oberösterreich standen lange in der Kritik, Corona-Maßnahmen zu lasch angewandt zu haben und für die höchsten Infektionszahlen in Österreich mitverantwortlich zu sein. Zwei Tage nach der Triage-Warnung der Salzburger Kliniken kam die Kehrtwende: Ab diesem Montag soll in beiden Bundesländern ein mehrwöchiger Lockdown gelten – nicht nur für Ungeimpfte, sondern für alle Bürger.

    Intensivmediziner sprechen von Führungsversagen der Politik

    Auch Intensivmediziner Janssens fordert für Deutschland ein deutlich energischeres Eingreifen der Politik: „Wir erleben seit vielen Wochen, wie sich eine Riesen-Infektionswelle von Süden aufbaut und in den Norden ziehen wird, ohne dass wirklich dagegen gehandelt wird“, kritisiert er. „Das ist wie wenn man in der Ferne einen Wirbelsturm am Himmel aufziehen sieht und dennoch in den Fluss zum Baden steigt.“ Die Politik sei sehenden Auges in diese Situation gelaufen, obwohl sie es besser wissen musste. „Die Wissenschaftler und Modellierer, die schon die vergangenen Infektionswellen recht zuverlässig vorausberechnet hatten, haben genau die jetzige Lage schon vor Monaten vorausgesagt und wurden einfach ignoriert“, kritisiert der Mediziner.

    Die Zeit drängt, nicht nur in Bayern: „Man muss die Welle brechen“, fordert Janssens. „Die Politik hat dazu die Mittel, doch keiner traut sich, diese wirklich zu ergreifen und flächendeckend umzusetzen. Um es deutlich zu sagen: Das ist ein klarer Fall von Führungsversagen.“

    Mediziner warnen vor Schuldzuweisungen an Ungeimpfte

    Er fordert eine klare Botschaft einheitlicher, bundesweiter, verständlicher und verlässlicher Regeln, ohne dass in jedem Bundesland etwas anderes gilt. „Stattdessen erleben wir die Bilder wie zehntausend feiernder Menschen im Kölner Karneval“, sagt er. „Wir Intensivmediziner wollen niemand die Freiheit oder den Spaß am Leben verderben, wir sind die Ersten, die sagen, wir wollen endlich wieder normal arbeiten.“ Die beste Medizin sei Prävention. „Inzwischen kann fast jeder Intensivmediziner von um ihr Leben kämpfenden Corona-Patienten im Alter von Anfang, Mitte Dreißig berichten“, warnt er.

    Der Intensivmediziner warnt auch die Gesellschaft, die Schuld für die Lage vor allem auf Ungeimpfte zu schieben. „Wir können diese Krise nur gemeinsam lösen“, betont Janssens. „Es bringt nichts, nur mit dem Finger auf die Ungeimpften zu zeigen“, fügt er hinzu. „Manche Menschen fallen auf falsche Informationen rein, werden von Demagogen vergiftet oder begreifen aus welchen Gründen auch immer die Gefahr nicht. Wir sollten uns als Gesellschaft nicht durch ein Virus spalten lassen.“ Deshalb verwahrt sich der Mediziner auch gegen Gedankenspiele, Ungeimpfte bei der Versorgung schlechter zu stellen. „Es ist unsere ethische Verpflichtung, alle Patientinnen und Patienten, ob geimpft oder ungeimpft, gleich zu behandeln. Wenn wir das nicht tun, können wir gleich einpacken.“

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