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Thüringen: Wahl von Kemmerich: In der FDP weht ein Hauch von Aufstand

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Wahl von Kemmerich: In der FDP weht ein Hauch von Aufstand

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    FDP-Chef Christian Lindner in der Zwickmühle: Einerseits freut ihn die Wahl seines Parteifreundes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, andererseits will er sich zur AfD weiter abgrenzen. „Das ist ein katastrophaler Dammbruch.“
    FDP-Chef Christian Lindner in der Zwickmühle: Einerseits freut ihn die Wahl seines Parteifreundes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, andererseits will er sich zur AfD weiter abgrenzen. „Das ist ein katastrophaler Dammbruch.“ Foto: Carsten Koall, dpa

    Eigentlich entsprach Thomas Kemmerich ziemlich genau jenem Idealbild, das FDP-Chef Christian Lindner für seine Spitzen-Wahlkämpfer entworfen hatte. Kemmerich, 54, Betreiber einer Friseurkette mit Vorliebe für Cowboystiefel, ging als Ober-Liberaler in Thüringen auf die Menschen zu, er warb unverdrossen für freiheitliche Werte – und mit kreativen Mitteln für sich selbst. So ließ der großgewachsene Kahlkopf ein Plakat kleben, auf dem eine Glatze von hinten zu sehen war. Darunter stand: „Endlich mal eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat.“ Sollte heißen: Hier ist jemand, der nicht einen Hauch von Faschismus-Verständnis aufbringt, wie es etwa der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke immer wieder zeigt.

    Doch in einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Kemmerich von Parteichef Lindner: Er will regieren, offenbar um jeden Preis. Anders war schon seine Kandidatur kaum zu verstehen und erst recht nicht die Annahme der Wahl zum Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD. Das steht in eklatantem Widerspruch zum FDP-Chef, der einst die Jamaika-Verhandlungen mit dem Satz abbrach, lieber regiere man gar nicht als schlecht. Prompt machte in sozialen Netzwerken eine Abwandlung die Runde: „Lieber mit Nazis regieren, als gar nicht regieren.“ Spott, gewiss. Aber auch CSU-Chef Markus Söder mahnte ganz ernsthaft, es sei schon seltsam, dass die FDP Jamaika-Verhandlungen beendet habe, nun aber mithilfe Radikaler regieren wolle.

    Thomas Kemmerich in Thüringen gewählt: Warum hielt sich die FDP nicht an den Wunsch der Zentrale?

    Damit hat Parteichef Lindner nun gleich mehrere Probleme. Am offensichtlichsten ist ein gefühlter Autoritätsverlust für den Mann, der seine FDP lange so fest im Griff zu haben schien. Warum hielt sich der kleine Landesverband in Thüringen – der es bei der Landtagswahl nur hauchdünn über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft hatte – nicht an den Wunsch der Zentrale, gar keinen Kandidaten bei der Ministerpräsidentenwahl aufzustellen?

    Damit einher geht eine für Lindner vielleicht noch gefährlichere Frage: Wofür steht seine Lindner-FDP, für welche Werte? Schon lange schwelt in der Partei eine Diskussion, ob diese derzeit zwar sehr smart und professionell daherkomme – aber anders als früher weder für wirtschaftlichen Liberalismus noch für Bürger- und Freiheitsrechte glaubhaft eintrete.

    Ex-FDP-Minister Baum übt nach Ministerpräsidentenwahl in Thüringen scharfe Kritik

    Vertreter dieses kritischen Parteiflügels meldeten sich umgehend zu Wort. So nannte der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum – für viele in der FDP immer noch eine Art liberales Gewissen – im Gespräch mit unserer Redaktion die Wahl von Kemmerich einen „katastrophalen Dammbruch“. „Der FDP-Fraktionschef hätte sich angesichts der absehbaren Gefahr, von der AfD gewählt zu werden, gar nicht zur Wahl stellen dürfen und er hätte erst recht nicht die Wahl annehmen dürfen“, betonte der 87-Jährige. Später fügte Baum noch hinzu, „ein Hauch von Weimar“ liege über dem Land.

    Auch die frühere FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte: „Eine Koalition der FDP mit der AfD darf es weder in Thüringen noch anderswo geben. Es kann auch nicht sein, dass die Regierung in Erfurt in ihrer Arbeit von der AfD abhängig ist.“ FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer kündigte ebenfalls Widerstand an: „Eine Duldung durch oder gar Zusammenarbeit mit der AfD würde auf meine heftigste Gegenwehr stoßen.“

    Thomas Kemmerich, Thüringens neu gewählter Ministerpräsident, gibt ein Statement im Landtag. Die FDP-Fraktion hat Kemmerich vor dem dritten Wahlgang im Landtag als Kandidaten benannt. Er wurde überraschend zum Regierungschef gewählt.
    Thomas Kemmerich, Thüringens neu gewählter Ministerpräsident, gibt ein Statement im Landtag. Die FDP-Fraktion hat Kemmerich vor dem dritten Wahlgang im Landtag als Kandidaten benannt. Er wurde überraschend zum Regierungschef gewählt. Foto: Martin Schutt, dpa

    Kemmerich zeigte sich in seiner ersten Rede zwar ordentlich angefasst von den massiven Protesten gegen seine Entscheidung. Doch seinen Traum vom Regieren mochte er noch nicht begraben. Er sei schließlich in geheimer Abstimmung gewählt worden, stünde glaubhaft für den Kampf gegen die AfD, so Kemmerich – und kündigte Gespräche mit CDU, SPD und Grünen über Ministerposten an.

    Von FDP-Chef Christian Lindner ist stundenlang nichts zu hören

    Was heißt all das für die Bundes-Liberalen, die zuletzt in Umfragen weit hinter die Grünen zurückgefallen sind und ihre traditionelle Rolle als Königsmacher zu verlieren drohen? Vize Wolfgang Kubicki gratulierte Kemmerich zwar überschwänglich zur Wahl. Aber Parteichef Lindner verfiel zunächst offenbar in Schockstarre, stundenlang war von ihm nichts zu hören. Ein angekündigter Auftritt vor der Presse wurde verschoben.

    Erst am späteren Nachmittag äußert sich Lindner – um dann einen fast unmöglichen Spagat zu erproben. Er wollte seinen Parteifreund nicht zu sehr persönlich beschädigen und gleichzeitig klarstellen, dass immer noch Brandmauern zwischen der FDP und der AfD stehen. Kemmerich sei ein Kandidat der Mitte, betonte Lindner. Wer ihn mitgewählt habe, dafür könne man nichts. Aber zugleich schloss Lindner bereits Neuwahlen nicht mehr aus. Fragen ließ er nicht zu.

    Doch die stellten sich sofort. Wäre eine Expertenregierung ein Ausweg? Abgeordneter Theurer sagt: „Ich halte eine Regierung in Thüringen mit allen Parteien außer der AfD und Experten als Minister für denkbar.“ Aber, nächste Frage, würde dies Liberale versöhnen, die den Dammbruch fürchten? Baum nicht. Der Ex-Minister sagt: „Das Argument, das Land muss regiert werden, zählt hier nicht, wenn man nicht weiß, durch welche Regierung. Die AfD kommt indirekt in eine Regierungsverantwortung, sie wird für die Unterstützung des FDP-Kandidaten einen Preis fordern.“

    Parteichef Lindner wünschte dem frisch gewählten Ministerpräsidenten Kemmerich übrigens nach dessen Wahl „starke Nerven“. Die wird Lindner nun selber brauchen.

    Lesen Sie dazu auch unseren Kommentar: Was im Thüringer Landtag vor sich ging, ist eine Schande

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