Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Thüringen: Ministerpräsidenten-Wahl: Protokoll eines unbegreiflichen Tages

Thüringen

Ministerpräsidenten-Wahl: Protokoll eines unbegreiflichen Tages

    • |
    Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich ist zum Ministerpräsidenten gewählt worden.
    Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich ist zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Foto: Martin Schutt, dpa

    Eigentlich hätte an diesem Mittwoch nichts wirklich Spannendes passieren sollen. Eigentlich wollte der Thüringer Landtag Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten wählen. Ja, es hätte ein Minderheitsregierung werden sollen, ja, es wäre knapp gewesen, aber dennoch: Die meisten rechneten damit, dass Ramelow am Mittwochmittag wieder Ministerpräsident von Thüringen sein würde. Doch es kam ganz anders.

    Der Mittwoch beginnt noch ganz normal: Um 11.01 Uhr eröffnet Birgit Keller (Linke), Präsidentin des Landtags in Thüringen, die Landtagssitzung. Ein paar Minuten später beginnt die Wahl. Zwei Kandidaten treten an: Ramelow für Linke, SPD und Grüne und für die AfD der parteilose Christoph Kindervater. Im ersten Wahlgang holt Ramelow zwar mehr Stimmen als Kindervater – es geht 43 zu 25 Stimmen aus – doch das ist eben nicht die Mehrheit im Landtag. Dafür sind 46 Stimmen nötig. Keller eröffnet einen zweiten Wahlgang. Wieder reicht es nicht. Keller eröffnet den dritten Wahlgang und diesmal nominiert die FDP-Fraktion noch ihren Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich nach.

    Um 13.28 nimmt Thomas Kemmerich die Wahl zum Ministerpräsident von Thüringen an

    Um 13.06 Uhr beginnt der dritte Wahlgang. Genau zwanzig Minuten später steht das Ergebnis fest: Um 13.26 verliest Birgit Keller den Ausgang. Im dritten Wahlgang holt Bodo Ramelow 44 Stimmen – wie auch zuvor. Christoph Kindervater bekommt null Stimmen, Thomas Kemmerich 46. Kemmerich nimmt die Wahl an. Um 13.28 Uhr vereidigt Keller ihn zum Ministerpräsidenten von Thüringen. Ein Raunen geht durch die Reihen der Abgeordneten und eine Schockwelle durch die Republik.

    Susanne Hennig-Wellsow (r., Die Linke) hat Thomas Kemmerich (l., FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsident, die Blumen vor die Füße geworfen und wendet sich ab.
    Susanne Hennig-Wellsow (r., Die Linke) hat Thomas Kemmerich (l., FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsident, die Blumen vor die Füße geworfen und wendet sich ab. Foto: Martin Schutt, dpa

    Die Empörung beginnt mit Susanne Hennig-Wellsow. Sie ist die Landeschefin der Linken in Thüringen. Eigentlich müsste sie Kemmerich zur Wahl gratulieren. Eigentlich. Doch Hennig-Wellsow geht auf Kemmerich zu und pfeffert ihm ihren Blumenstrauß vor die Füße. Ein Video dieses Moments zirkuliert am Mittwoch auf Twitter.

    Doro Bär gratuliert Kemmerich erst zur Wahl – und bedauert ihren Tweet dann

    Das Bild ist ein gutes Symbol für die widersprüchlichen Gefühle in der Republik. Denn die Reaktionen auf die Wahl reichen von empört – wie bei Susanne Henig-Wellsow – bis triumphierend. Manche setzen sich mit ihren Reaktionen auch ziemlich in die Nesseln. Ein Beispiel: Dorothee Bär. Sie gratuliert dem neuen Ministerpräsidenten von Thüringen spontan auf Twitter. Eine Geste, die nach einer Wahl völlig normal ist – eigentlich. Doch diesmal erntet die CSU-Frau dafür recht viel Kritik.

    Sie löscht ihren Tweet. Und bedauert ihre Reaktion. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt die Staatsministerin für Digitalisierung: „Ich habe Thomas Kemmerich sofort und spontan gratuliert, weil ich ihn gut aus dem Bundestag kenne. Das war ehrlicherweise ein Fehler. Denn die Art und Weise, wie diese Wahl zustande kam, versuche ich im Bundestag seit Jahren mit allen Mitteln zu bekämpfen. Das weiß auch jeder, der mich kennt. Daher habe ich den Tweet auch gleich wieder gelöscht.“

    Martin Hagen, Fraktionsvorsitzender der FDP in Bayern, ergeht es ähnliche. Er gratuliert Kemmerich zunächst via Instagram – und löscht die Nachricht wieder.

    Martin Hagen, Fraktionsvorsitzender der FDP in Bayern, feiert die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen.
    Martin Hagen, Fraktionsvorsitzender der FDP in Bayern, feiert die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen. Foto: Screenshot AZ

    Bayerischer FDP-Chef Martin Hagen gratuliert Kemmerich ebenfalls – und spricht von einem Fehler

    „Ich wurde unvermittelt aus einem Gespräch gerissen mit der überraschenden Nachricht: Ein FDPler ist Ministerpräsident. Das Foto zeigt die erste Reaktion darauf. Leider habe ich es gepostet, bevor ich realisiert habe, was die Hintergründe dieser Wahl waren und mit wessen Stimmen Kemmerich ins Amt gekommen ist. Ein dummer Fehler“, sagt Hagen unserer Redaktion am Donnerstag.

    Am Donnerstagmorgen hatte er schon Video auf Facebook veröffentlich. Er habe die ganze Nacht intensiv über die Wahl in Thüringen nachgedacht, sagt Hagen. Ja, im ersten Moment habe er sich über die Wahl eines FDP-Mannes zum Ministerpräsidenten in Thüringen gefreut, doch die Freude sei ihm im Hals stecken geblieben, als im klar wurde, dass die Wahl nur durch Stimmen der AFD zustande kam. Die Wahl von Kemmerich sei vergiftet und er hätte sie nicht annehmen dürfen, sagt Hagen. 

    Nach der Wahl in Ministerpräsidentenwahl in Thüringen: Viele Politiker kritisieren Thomas Kemmerich

    Damit liegt er übrigens genau auf der Linie von Wolfgang Kubicki. Auch der gratulierte Kemmerich zunächst und sagt: „Es ist ein großartiger Erfolg für Kemmerich. Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt. Offensichtlich war für die Mehrheit der Abgeordneten in Thüringer Landtag die Aussicht auf fünf weitere Jahre Ramelow nicht verlockend“. Am Donnerstagmorgen fordert der FDP–Vize dann Neuwahlen in Thüringen: „Die Erklärung der Minderheitskoalitionäre aus Linken, SPD und Grünen, Fundamentalopposition zu betreiben, schafft eine neue Lage.“

    Manche der anderen Gratulanten halten dagegen an ihrer ursprünglichen Euphorie fest: Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), gratuliert Kemmerich zur Wahl – und wird dafür heftig kritisiert. Er lässt den Tweet allerdings stehen. 

    Es gibt weitere Beispiele: Auch die Junge Union München Nord gratuliert Kemmerich zur Wahl. Der Tweet steht ebenfalls noch online.

    Viele andere FDP-Politiker sehen die Wahl hingegen von Anfang an kritisch. So schreibt etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dass sie Kemmerich zwar schätze, er die Wahl aber dennoch hätte ablehnen müssen. Der FDP-Mann Thomas Sattelberger sieht es ähnlich.

    Auch aus anderen Parteien kommt heftige Kritik. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, etwa reagiert unmittelbar nach der Wahl, und zwar sehr deutlich. Sie sieht in der Wahl Kemmerichs einen bewussten Verstoß gegen die Grundwerte Deutschlands. “Unfassbar!“, kommentiert die Thüringerin.

    Am Donnerstagmorgen schreibt sie, dass sie nun von Kemmerich erwarte, zurückzutreten und den Scherbenhaufen wieder aufzusammeln. Auch der CSU-Chef Markus Söder findet deutliche Worte: „Das ist kein guter Tag für Thüringen, kein guter Tag für Deutschland und erst recht keiner für die Demokratie in unserem Land. Es ist ein inakzeptabler Dammbruch, sich mit den Stimmen der AfD und sich gerade mit den Stimmen von Herrn Höcke zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen.“ Im Laufe des Mittwochs äußert sich irgendwann auch Bodo Ramelow selbst zu der Wahl – mit einem Hitler-Zitat. Der sagte 1930: „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei.“

    Der Juso-Chef Kevin Kühnert und die Jusos rufen spontan zur Demonstration vor den Zentralen der CDU und FDP in Berlin auf und viele Menschen folgen ihrem Apell. Genauso formieren sich spontan Proteste vor dem Landtag in Thüringen.

    Hat AKK Christian Lindner gebeten, keinen FDP-Kandidaten aufzustellen?

    Nur eine Partei freut sich völlig einhellig über die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten: die AfD.

    Die Affäre zieht am Donnerstag immer weitere Kreise. Noch am Mittwochabend hat die CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer im Interview mit dem heute-Journal gesagt, sie habe FDP-Chef Christian Lindner eindrücklich darum gebeten, keinen FDP-Kandidaten aufzustellen, weil sie sich der Gefahr bewusst war, dass er mit den Stimmen der AfD gewinnen könnte. Lindner hingegen soll das in Kauf genommen haben, berichten nun erste Medien. Der FDP-Chef reist jetzt nach Thüringen, um Kemmerich von einem Rücktritt zu überzeugen.

    Inzwischen hat sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel geäußert. Sie ist momentan auf einem Besuch in Südafrika. Dort sagte sie vor Journalisten: Die Wahl Kemmerichs sei „unverzeihlich.“ Das Ergebnis müsse rückgängig gemacht werden. „Es ist die Rede von Neuwahlen in Thüringen. Das ist eine Option“, sagt die Kanzlerin. (mit dpa)

    Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Was im Thüringer Landtag vor sich ging, ist eine Schande

    Das könnte Sie auch interessieren:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden