Terrorgruppen könnten die Corona-Krise für neue Gewalttaten ausnutzen, warnt UN-Generalsekretär Antonio Guterres. Wie hoch die Gefahr ist, zeigte sich jetzt bei einem Gefecht in der syrischen Provinz Homs: Dort töteten Kämpfer des "Islamischen Staates" (IS) nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Donnerstag mindestens 27 Regierungssoldaten. 22 IS-Kämpfer kamen demnach ums Leben.
Ein Jahr nach dem Ende ihres geographischen "Kalifats" und ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Anführers Abubakr al-Bagdadi melden sich die Extremisten zurück. Sie wittern eine Chance auf ein Comeback, weil ihre Gegner mit dem Kampf gegen die Corona-Pandemie beschäftigt sind.
Größe Aktion seit Ende des "Kalifats" - IS meldet sich mit Angriff auf Wüstenstadt zurück
Der Angriff in der Wüstenstadt Al-Sukhna in Homs war die größte Aktion des IS seit der Zerschlagung des "Kalifats" im vergangenen Jahr. Wie die Beobachtungsstelle mitteilte, musste die russische Luftwaffe eingreifen, um die IS-Trupps zurückzuschlagen. IS-Kämpfer halten sich seit Jahren in der Badia-Wüste versteckt, die sich von Zentral-Syrien bis zur irakischen Grenze zieht.
Zwar ist der IS weit von seinen Erfolgen in den Jahren 2014 und 2015 entfernt, als er große Teile von Irak und Syrien überrannte und zehntausende Extremisten aus aller Welt anzog. Eine internationale Allianz unter Führung der USA drängte den IS damals immer weiter zurück und eroberte im Frühjahr vergangenen Jahres den letzten Zipfel des "Kalifat"-Gebietes. Im Oktober starb Bagdadi bei einem Angriff von US-Soldaten auf sein Versteck in Nord-Syrien.
Doch von einem endgültigen Sieg über die Extremisten kann keine Rede sein. Der IS verfügt nach wie vor über viel Geld – das unter anderem aus der Plünderung eroberter Städte und aus dem illegalen Ölhandel stammt – und konnte dank seiner de-zentralisierten Strukturen auch wichtige Teile seiner Organisation retten. Als Bagdadis Nachfolger haben die USA den früheren irakischen Armeeoffizier Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli im Visier. Tausende IS-Gefolgsleute sitzen in Straflagern im Nordosten Syriens und warten auf eine Chance, sich wieder den Extremisten anzuschließen. Erst vergangene Woche gelang einigen von ihnen die Flucht.
Anti-IS-Koalition: Europäer ziehen ihre Soldaten wegen Corona ab
Die weltweite Corona-Krise spielt den Dschihadisten unter anderem dadurch in die Hände, dass die westliche Anti-IS-Koalition ihre Aktivitäten herunterfährt. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien ziehen Soldaten aus dem Irak ab, um sie vor dem Risiko einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen.
Die Pandemie schwächt auch andere staatliche Akteure. Der Irak steckt in einer politischen Dauerkrise und leidet zudem unter der amerikanisch-iranischen Rivalität, die auf seinem Staatsgebiet ausgetragen wird. Die gesunkenen Ölpreise engen die Möglichkeiten der Regierung in Bagdad, auf die Corona-Krise zu reagieren, noch weiter ein.
Auch der benachbarte Iran, der in den vergangenen Jahren eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des IS im Irak spielte, muss sich um mehr als 60.000 Corona-Fälle kümmern. Teheran hat wegen der Pandemie, den Wirtschaftsproblemen als Folge der US-Sanktionen und wegen des niedrigen Ölpreises derzeit kein Geld, um Milizen für den Kampf gegen den IS zu bezahlen.
Auch der Rückzug der USA aus der Region verschafft dem IS mehr Luft. Allein im vergangenen Monat verließen US-Truppen drei Stützpunkte im Irak, der Abzug von zwei weiteren Militäreinrichtungen ist geplant. Die Truppenverlegungen werden zwar bereits seit dem vergangenen Jahr vorbereitet und hängen nicht mit der Pandemie zusammen: Washington will die amerikanischen Soldaten im Irak auf nur noch zwei Stützpunkten konzentrieren. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die irakischen Truppen ohne amerikanische Hilfe in der Lage sein werden, den IS in Schach zu halten.
Corona-Pandemie: "Islamischer Staat" will die Krise für sich nutzen
In Afghanistan und in Westafrika sei der Kampf gegen den IS ebenfalls gefährdet, betonte die Denkfabrik International Crisis Group kürzlich in einer Analyse. "Wenn die regionale staatliche Zusammenarbeit zusammenbricht, weil sich die jeweiligen Länder mit der Krise ihrer Gesundheitssysteme befassen, oder wenn sich internationale Akteure wegen des Coronavirus zurückziehen, so wie es einige Länder es offenbar im Irak tun, dann könnte das schwere Folgen haben."
Der IS sieht sich deshalb im Aufwind. In ihrem Newsletter "Al Naba" betonten die Extremisten laut Crisis Group, die Corona-Krise werde die Feinde des "Kalifats" dazu veranlassen, sich auf andere Dinge zu konzentrieren als auf den Kampf gegen den IS, und werde das Lager der IS-Gegner "atomisieren". Der nachlassende Druck wird es dem IS leichter machen, im Irak, Syrien und anderswo wieder in die Offensive zu gehen.
Die Entsendung von Terror-Teams in den Westen ist für die Dschihadisten dagegen schwieriger: Wegen der geschlossenen Grenzen kann der IS vorerst keine Extremisten nach Europa schicken, um Anschläge zu verüben. Zudem fürchtet auch der "Islamische Staat" das Coronavirus: Schon vor der Unterbrechung der internationalen Flugverbindungen hatte der IS seine Anhänger in einer Art "Reisewarnung" dazu aufgerufen, Europa wegen der Pandemie zu meiden.
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