Nach dem erwarteten Fall der Rebellenenklave Ost-Ghuta ist die Provinz Idlib eine der letzten Regionen Syriens, die sich der Kontrolle von Baschar al-Assad entzieht. Der syrische Machthaber hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er "jeden Zentimeter des syrischen Territoriums" zurückerobern will, doch dürfte sich das Schicksal der Rebellenbastion weniger auf dem Schlachtfeld, als in Verhandlungen zwischen der Türkei und Assads Verbündetem Russland entscheiden.
Wenn der russische Präsident Wladimir Putin am Dienstag nach Ankara reist, dürfte Idlib ein wichtiges Thema der Gespräche sein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan steht seit 2016 im engen Austausch mit Putin zu Syrien, doch verfolgen die beiden Männer in dem Bürgerkriegsland unterschiedliche Ziele. Gerade in Idlib dürfte es nicht leicht werden, die Divergenzen zu überbrücken.
"Es wird einen Wettkampf zwischen Russland und der Türkei um Idlib geben", glaubt Nicholas Heras vom Center for a New American Century. Die Frage sei, ob Erdogan Putin zum Nachgeben zwingen könne. Auch der Syrien-Experte Sam Heller von der International Crisis Group ist überzeugt, dass das Schicksal von Idlib bei Verhandlungen hinter den Kulissen zwischen der Türkei und Russland entschieden werde.
"In Idlib versammeln sich Assads größten Feinde, weshalb Russland versucht sein könnte, grünes Licht für eine Offensive des Regimes in der Provinz zu geben", sagt der US-Experte Heras. Eine Offensive aber würde hunderttausende Menschen zur Flucht über die Grenze in die Türkei zwingen, was diese unbedingt vermeiden wolle. Ihr Ziel sei es, Idlib als "Puffer gegen den Krieg" zu erhalten, sagt Heras.
Die türkische Armee kontrolliert seit 2016 bereits Teile der Provinz Aleppo, und in den vergangenen Wochen eroberte sie mit verbündeten syrischen Rebellen auch die Kurdenregion Afrin. In den Gebieten unter ihrer Kontrolle will die türkische Regierung einen Teil der 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die seit 2011 in die Türkei geflohen sind und dort zunehmend für Spannungen sorgen.
Um Idlib unter ihren Einfluss zu bringen, muss die Türkei aber die Provinz der Gewalt des Dschihadistenbündnisses Hajat Tahrir al-Scham (HTS) entreißen, das trotz einiger Rückschläge in letzter Zeit dort fest verwurzelt bleibt. "HTS hat ländliche Gebiete im Süden von Idlib verloren, doch kontrolliert die Gruppe weiter die Provinzhauptstadt Idlib und den Grenzübergang Bab al-Hawa" zur Türkei, sagt Heller.
Anfang des Jahres hatten Assads Truppen mit Unterstützung der russischen Luftwaffe die Dschihadisten von einer strategisch wichtigen Luftwaffenbasis im Südosten von Idlib vertrieben und sie von der Autobahn zwischen Hama und Aleppo zurückgedrängt. Nachdem diese Ziele erreicht waren, stoppte Assad jedoch die Offensive.
Ein Grund dafür war, dass sich Assad zunächst auf die Wiedereinnahme der Rebellenenklave Ost-Ghuta bei Damaskus konzentrieren wollte, ein anderer, dass ein weiterer Vormarsch zu einer Konfrontation mit der Türkei geführt hätte. Diese hat in Idlib mehrere Beobachtungsposten eingerichtet, um die Einhaltung einer Waffenruhe zu überwachen, die dort mit Russland und dem Iran vereinbart worden war.
Dass Assad bald eine neue Offensive auf Idlib startet, erwartet Heller nicht. Vielmehr werde Assad wohl als nächstes die Rebellenbastion Daraa im Süden Syriens ins Visier nehmen. Dies würde der Türkei und verbündeten syrischen Rebellen Zeit geben, die Dschihadisten in Idlib zu verdrängen. Gegen den Willen Putins wird Erdogan aber kaum in der Provinz intervenieren können. Viel hängt daher vom Ergebnis der Verhandlungen der beiden Männer ab. (afp)