Stuttgart Der erste Baggerbiss am Südflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs hat gestern kaum Gegner des Milliardenprojekts S21 mobilisiert. Als der 110 Tonnen schwere Abbruchbagger mit seinem 36 Meter langen Arm um 15.07 Uhr mit dem Abriss am oberen Rand des Gebäudes begann, demonstrierten an den Absperrungen weniger als 50 Menschen friedlich.
250 Polizisten hatten schon am Morgen die Straße am Südflügel gesperrt. Vor der Zufahrt zur Baustelle mussten die Beamten eine Sitzblockade auflösen und 30 Projektgegner wegtragen, 100 weitere gingen freiwillig.
Nach Angaben der Parkschützer-Initiative hatten 500 Gegner die Nacht zum Montag vor dem Südflügel ausgeharrt. Ihr Sprecher Matthias von Herrmann forderte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) auf, die sinnlose Zerstörung zu stoppen. Die Bahn schaffe Fakten, bevor sie alle Genehmigungen für das Projekt beisammenhabe.
Herrmann schrieb sich gleich noch auf die Fahne, dass durch die Nachtwache die Abholzung weiterer Bäume vorerst verhindert werden konnte. Doch die Räumung des benachbarten Schlossgartens, wo 176 Bäume teils gefällt, teils versetzt werden müssen, stand am Montag noch nicht auf der Tagesordnung. Die Polizei muss für den Großeinsatz mit mehreren tausend Beamten erst in anderen Bundesländern Unterstützung organisieren. Die wahrscheinlich nächste Woche anstehende Räumung des Parks sorgt auch in der grün-roten Landesregierung für Spannung.
Chronologie: Großprojekt Stuttgart 21
November 1995: Bahn, Bund, Land und Stadt unterzeichnen eine Rahmenvereinbarung, in der auch die Finanzierung des auf fünf Milliarden Mark (rund 2,5 Milliarden Euro) veranschlagten Projekts festgelegt wird.
November 1997: Das Düsseldorfer Architektenbüro von Christoph Ingenhoven erhält den Zuschlag für den Umbau in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof mit großen Lichtaugen.
Oktober 2001: Das Planfeststellungsverfahren beginnt.
Juli 2004: Eine Wirtschaftlichkeitsberechnung der Bahn gibt die neuen Kosten von Stuttgart 21 mit 2,8 Milliarden Euro an.
April 2006: Das oberste Verwaltungsgericht Baden-Württembergs weist drei Klagen gegen den geplanten Umbau des Hauptbahnhofs ab.
20. Dezember 2007: Der Gemeinderat der Landeshauptstadt lehnt einen Bürgerentscheid über das Milliardenprojekt mit großer Mehrheit ab. Rund 67.000 Bürger, dreimal mehr als notwendig, hatten dafür votiert.
2008: Die Landesregierung erwartet Verteuerung auf 3,076 Milliarden Euro - der Bundesrechnungshof kommt auf mehr als fünf Milliarden Euro.
2. April 2009: Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bahn-Vorstand Stefan Garber unterzeichnen die Finanzierungsvereinbarung.
2. Februar 2010: Die Bauarbeiten beginnen.
27. Juli 2010: Bahnchef Grube gibt für die Schnellbahntrasse nach Ulm eine Kostensteigerung um 865 Millionen Euro auf 2,9 Milliarden Euro bekannt.
11. August 2010: Das Umweltbundesamt sieht für Stuttgart 21 und die neue Schnellbahntrasse eine weitere Kostenexplosion auf bis zu elf Milliarden Euro.
25. August 2010: «Baggerbiss» am Nordflügel des Hauptbahnhofs.
September 2010: Die oppositionelle SPD, die wie die schwarz-gelbe Regierung für das Vorhaben ist, will die Bürger entscheiden lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt die Landtagswahl zur Abstimmung über das Bahnprojekt. Der Konflikt eskaliert. Bei der Räumung des Schlossgartens werden weit mehr als 100 Demonstranten verletzt, einige davon schwer. Auch Dutzende von Polizisten erleiden Verletzungen. Kurz nach Mitternacht werden die ersten Bäume gefällt.
06. Oktober 2010: Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) schlägt den früheren CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als Schlichter vor.
09. Oktober 2010: Der Protest wächst weiter: Rund 65.000 Menschen gehen nach Schätzungen der Polizei gegen das Bahnprojekt auf die Straße. Die Veranstalter sprechen von 90.000 bis 100.000 Teilnehmern.
22. Oktober - 27. November 2010: Acht Runden öffentlicher Schlichtung.
30. November 2010: Geißler spricht sich in seinem Schlichterspruch für den Weiterbau des Projekts aus, verlangt aber Nachbesserungen. So schlägt er einen Stresstest vor, der zeigen soll, ob der geplante Tiefbahnhof wie behauptet 30 Prozent leistungsfähiger ist als der Kopfbahnhof. Die Ergebnisse werden im Sommer 2011 erwartet.
10. Januar 2011 : Die während der Schlichtung unterbrochenen Bauarbeiten werden fortgesetzt - begleitet von Protesten.
27. März 2011: Bei der Landtagswahl siegen Grüne und SPD.
29. März 2011: Zwei Tage nach dem Regierungswechsel verkündet die Bahn einen Bau- und Vergabestopp bis zur Regierungsbildung im Mai.
27. April 2011: Grüne und SPD präsentieren ihren Koalitionsvertrag. Die beiden Parteien einigen sich, über die Zukunft von Stuttgart 21 per Volksabstimmung entscheiden zu lassen. Im Juni soll außerdem ein Stresstest zeigen, ob der Bahnhof teuer nachgerüstet werden muss.
12. Mai 2011: Winfried Kretschmann wird nach dem Wahlsieg erster grüner Ministerpräsident der deutschen Geschichte.
3. Juni 2011: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert in einem Gespräch mit Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer einen längeren Bau- und Vergabestopp. Ramsauer lehnt dies ab.
14. Juni 2011: Die Deutsche Bahn nimmt die nach dem Regierungswechsel unterbrochenen Bauarbeiten wieder auf. Erneut kommt es zu kleineren Demonstrationen und Blockaden.
9. Juli 2011: Erneut kommt es zu größeren Demonstrationen. Tausende Menschen fordern einen «Baustopp für immer».
21. Juli 2011: Der geplante Bahnhof besteht den von einer Schweizer Firma durchgeführten Stresstest.
29. Juli 2011: Das Ergebnis des Stresstests wird offiziell präsentiert. Auch das Aktionsbündnis gegen das Bahnhofsprojekt nimmt an dem Termin teil, nachdem zunächst ein Boykott erwägt worden war.
27. November 2011: Eine Mehrheit hat sich für den Tiefbahnhof Stuttgart 21 entschieden. Rund 7,6 Millionen Stimmberechtigte waren aufgerufen, über das S21-Kündigungsgesetz abzustimmen. 58,9 Prozent stimmten gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung, 41,1 Prozent stimmten für den Ausstieg.
23. März 2012: Die Bahn gibt bekannt, dass der Bahnhof voraussichtlich erst mit einem Jahr Verzögerung im Jahr 2020 in Betrieb geht - und sieht die Bausumme nach wichtigen Vergaben bei 4,3 Milliarden Euro.
3. Dezember 2012: Aus Kreisen des Bahn-Aufsichtsrats heißt es, Stuttgart 21 könne rund eine Milliarde Euro teurer werden. Summe damit etwa: 5,5 Milliarden Euro.
6. Dezember 2012: Noch einmal 500 Millionen Euro mehr. Ein Vertreter des Bahn-Konzerns sagt dem Hessischen Rundfunk: "Insgesamt läuft es auf Kosten von sechs Milliarden hinaus."
12. Dezember 2012: Nun zwei Milliarden Euro mehr? Unter Berufung auf Regierungskreise zitiert die "Stuttgarter Zeitung" Studien, wonach die Mehrkosten mindestens bei 1,3 Milliarden Euro, schlimmstenfalls bei 2 Milliarden Euro liegen.
Als im Sommer 2010 der Abriss des Nordflügels begann, hatten die Stuttgart-21-Gegner massenhaft demonstriert und stundenlang die Innenstadt praktisch lahmgelegt. Zehntausende gingen am Abend des 25. August auf die Straße, um gegen den Abriss zu demonstrieren, das einem neuen Technikgebäude für den unterirdischen Tunnelbahnhof weichen musste. Der erste Baggerbiss war damals der Auftakt für wochenlange Massenproteste.
Architekten-Erbe scheitert vor Gericht mit Eilantrag
Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof in Mannheim hat gestern den Eilantrag eines Erben des Bahnhofsarchitekten Paul Bonatz gegen den Abriss zurückgewiesen. Der Kläger wollte erreichen, dass der Rückbau erst beginnen darf, wenn das Gesamtprojekt genehmigt ist. Die Richter sprachen dem Bonatz-Enkel die Klagebefugnis ab. Auf dem geerbten Urheberrecht lasse sich eine solche Klage nicht aufbauen. Die Richter warfen ihm außerdem vor, dass er mit dem Antrag bis zum letzten Moment wartete, obwohl seit Januar 2005 der Abriss des Südflügels genehmigt ist.